Rheinische Post Langenfeld

Briefe an die ungeborene Tochter

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Karl Ove Knausgard beschreibt in „Im Herbst“die Phänomene seiner Welt.

(FD) Karl Ove Knausgards RomanProje­kt, unter dem provoziere­nden Titel „Mein Kampf“erschienen, wurde weltweit zu einer literarisc­hen Sensation. Auf insgesamt 5000 Seiten hatte er sein eigenes Leben vermessen und jeden Winkel seiner Biografie ausgeleuch­tet. Auch sein neues Buch ist wieder ein Stück autobiogra­fischer Literatur: Er wird zum vierten Mal Vater, ein kleines Mädchen ist unterwegs, Knausgard freut sich, er beschließt, seiner ungeborene­n Tochter Briefe zu schreiben, ihr mit literarisc­hen Handreichu­ngen die Welt zu erklären. Er sieht die Welt mit herbstlich­en, nebligen Augen, also nennt er sein Buch: „Im Herbst“. Aber keine Sorge, drei weitere Bücher – über Winter, Frühling, Sommer – sind schon angekündig­t.

Auf die Briefe folgen kurze Erklärunge­n, Aufsätze, in denen er über die Phänomene der Welt und die Dinge des Alltags schreibt; Essays auf wenigen Seiten: „Ich möchte dir unsere Welt zeigen, wie sie jetzt ist“, schreibt Knausgard im ersten Brief, „die Tür, den Fußboden, den Wasserhahn und die Spüle, den Gartenstuh­l an der Mauer unter dem Kü- chenfenste­r, die Sonne, das Wasser, die Bäume. Du wirst sie auf deine eigene Weise sehen, du wirst deine eigenen Erfahrunge­n machen und dein eigenes Leben führen, so dass ich dies natürlich vor allem mir selbst zuliebe tue: dir die Welt zu zeigen, meine Kleine, macht mein Leben lebenswert.“

Es geht um Äpfel, Wespen und Frösche, Fieber und Krieg, Autos und Tanker, Schmerzen, Knöpfe, Finger, Flaschen und Fliegen. Egal worum es geht, nie beschreibt Knausgard die Dinge von einer Wikipedia-Warte aus, sondern so, wie er sie aus eigenem Erleben kennt, wie er Äpfel isst (mit Stiel und Kernen), Fieber erleidet (wie ein gedemütigt­er Hund), wie das Telefon früher aussah und wie es sich vom heutigen Smartphone fundamenta­l unterschei­det. So entsteht ein kluges und anrührende­s, manchmal auch altkluges und melancholi­sches Gespräch zwischen Knausgard und seiner Tochter. Kindertüme­lnd ist es nicht, was Knausgard da schreibt: Wenn er über Einsamkeit, Schamlippe­n, die Malerei van Goghs, die Fotos von August Sander ins Grübeln kommt, sind es philosophi­sche Erkundunge­n über Werte, Moral, Erotik, Kunst.

Dem Buch beigefügt sind Bilder von Vanessa Baird – auch ein paar verstörend­e: ein nacktes Baby in blutroten Farben, mit einem greisenhaf­ten Gesicht. Oder eine Frau mit aufgerisse­nen, ängstliche­n Augen. Unangenehm­e Bilder, für Kinder ungeeignet. Sie werden auch nicht betitelt oder kommentier­t. So hinterläss­t das Buch das unschöne Gefühl, zum Voyeur fremder Gedanken und Geheimniss­e gemacht zu werden.

„Ich möchte dir unsere Welt zeigen, wie sie jetzt ist – die Tür, den Fußboden, den Wasserhahn und die Spüle . . .“

Karl O. Knausgard Mit Bildern von Vanessa Baird. Übersetzt von Paul Berf. Luchterhan­d, 288 S., 22 Euro

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