Rheinische Post Langenfeld

610 Gramm Leben

- VON CHRISTOPHE­R BESCHNITT

Jährlich werden 60.000 Kinder zu früh geboren. Hannah hatte eine Überlebens­chance von 50 Prozent, die Ärzte erwarteten auch Behinderun­gen. Doch kurz vor ihrem eigentlich­en Geburtster­min hat sie eine gute Prognose.

NEUBURG AN DER DONAU (kna) Eigentlich sollte sie noch gar nicht auf der Welt sein. Hannahs errechnete­r Geburtster­min ist erst der 20. November. Doch aus diesem Stichtag wurde nichts: Das Baby kam rund 16 Wochen zu früh. „Sie ist so unfertig – das war einer meiner ersten Gedanken, als sie da war“, sagt Hannahs Mutter Kerstin Herzner. Die 30-Jährige aus dem oberbayeri­schen Landkreis Eichstätt streicht ihrer Tochter liebevoll über den Rücken. Die Kleine in ihrem rosa Strampler zuckt und hebt ihr Köpfchen. Dass sie nun so lebendig ist, war noch vor Kurzem längst nicht abzusehen.

Denn Hannah ist ein Frühchen. „Davon spricht man, wenn das Kind nicht wie normalerwe­ise 40 Wochen im Mutterleib geblieben ist, sondern vor der Vollendung von 37 Schwangers­chaftswoch­en geboren wurde“, erklärt Stephan Seeliger. Dieses Schicksal treffe etwa jedes zehnte Neugeboren­e in Deutschlan­d, ergänzt der Chefarzt und Ärztliche Direktor der Klinik für Kinder und Jugendmedi­zin in den Kliniken Sankt Elisabeth in Neuburg an der Donau. In der Einrichtun­g der Katholisch­en Jugendfürs­orge der Diözese Augsburg (KJF) sind Kerstin Herzner und ihre Hannah derzeit untergebra­cht.

Etwa 50 Prozent Überlebens­wahrschein­lichkeit hatte die Kleine bei ihrer Geburt. Und zu 80 Prozent sollte sie behindert sein. „Was allerdings ein dehnbarer Begriff ist“, schränkt Seeliger ein. So zeige das Kind bisher keine Auffälligk­eiten. Aber viele Frühchen hätten später mit Problemen wie Legastheni­e, Aufmerksam­keitsdefiz­iten und Rechenschw­äche zu kämpfen.

„Damit kämen wir schon klar“, meint Kerstin Herzner. Warum ihre Tochter bloß so viel zu früh gekommen ist? „Vermutlich lag es an einer Entzündung. Entspreche­nde Werte hat man bei mir festgestel­lt.“Entzündung­en im Mutterleib seien die häufigste Ursache für Frühgeburt­en, fügt Seeliger hinzu. „Andere Gründe können zum Beispiel Störungen an der Gebärmutte­r oder der Plazenta oder Mehrlingss­chwangersc­haften sein. Zudem erhöhen Rauchen und Alkoholgen­uss das Risiko für eine Frühgeburt.“Das hieß für Hannah: Geburt per „eiliger Sektion“. Die Ärzte mussten sie mit einem Kaiserschn­itt holen, weil sie mit ihren Füßchen Teile der Fruchtblas­e aus dem Muttermund herausgest­rampelt hatte.

Bei ihrer Geburt brachte Hannah 610 Gramm Körpergewi­cht auf die Waage, bei einer Länge von 30,5 Zentimeter­n. Zum Vergleich: Das „deutsche DIN-Baby“, wie Chefarzt Seeliger sagt, wiegt 3450 Gramm und misst 50 Zentimeter. An diese Werte kommt Hannah inzwischen fast heran: 3100 Gramm wiegt sie jetzt und ist 48 Zentimeter lang.

Inzwischen hat Hannah zwar den Inkubator gegen ein gewöhnlich­es Babybett getauscht. Doch weil sie noch schwach ist, bekommt sie Muttermilc­h über eine Magensonde und Sauerstoff durch einen Schlauch. „In drei Wochen können wir das Krankenhau­s aber hoffentlic­h verlassen“, sagt Herzner. Da sich Hannah gut entwickelt, ist die Mutter frohen Mutes. Aber sie war es auch in den schweren Stunden rund um die Geburt. „Zumindest habe ich immer versucht, nicht daran zu denken, dass Hannah sterben könnte“, erzählt sie. Diesen Gedanken habe sie auch verdrängt, als Hannah schon im Alter von vier Wochen eine Gefäß-Operation über sich ergehen lassen musste.

Da war die Kleine indes schon aus dem Gröbsten heraus: „Die kritischst­e Zeit sind die ersten fünf Lebenstage“, sagt Seeliger. Noch zu seinen Studienzei­ten vor rund 30 Jahren wurden Frühchen erst ab der 28. Schwangers­chaftswoch­e behandelt. Wie weit der Fortschrit­t noch gehen mag? „Die Grenze zur Lebensfähi­gkeit liegt heute bei der 23. Schwangers­chaftswoch­e. Viel weiter wird sie wohl auch nicht mehr runtergehe­n, weil die Lunge des Kindes sich sonst nicht genügend entwickeln kann.“

Hannah jedenfalls scheint sich kräftig entwickeln zu wollen. Mit ihren Strampler-Beinchen schiebt sie sich nun auf Mamas Bauch hoch in Richtung Brust. „Hunger“, kommentier­t Kerstin Herzner und befüllt die Sonde mit abgepumpte­r Milch. Fürs Stillen ist Hannah eben zu schwach. Eigentlich wäre sie ja auch noch gar nicht geboren.

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FOTO: KNA Kerstin Herzner mit ihrer Tochter in den Kliniken Sankt Elisabeth in Neuburg an der Donau: Hannah kam 16 Wochen zu früh auf die Welt und wog bei ihrer Geburt mit 30,5 Zentimeter­n 610 Gramm.

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