Rheinische Post Langenfeld

Vorlesen ist kein Kinderkram

- VON TOBIAS JOCHHEIM

Wer seine Liebe zum Lesen an seine Kinder weitergebe­n will, kann einen fatalen Fehler machen: Ihnen unaufgefor­dert einfach ein paar Bücher auf den Tisch knallen nämlich. Das erzeugt eine ungesunde Erwartungs­haltung, provoziert Unsicherhe­it, Unwillen, Widerstand. Lesen wird durch ein solch offensives Vorgehen zur lästigen Pflicht, Bücher zu etwas Ähnlichem wie Grünkohl oder Lebertran.

Wer seine Kinder zu früh mit Büchern alleine lässt, stellt ihnen einen Buchstaben­berg vor die Nase, aus dem sie das Gold so mühsam herausschü­rfen müssen, dass sie schnell die Lust daran verlieren.

Das genaue Gegenteil von alledem passiert beim Vorlesen. Damit kann man gar nicht früh genug anfangen: Unendlich fesselnd und beruhigend ist ja allein die Stimme von Mama oder Papa. Wie Zauberei erscheint den Kleinen, was da an ihre Ohren dringt. Und ein Stück weit ist es das ja auch. Tinte auf Papier wird zu Wörtern, und die werden zu Menschen, Tieren, Häusern, Handlungen vor unserem geistigen Auge, in Farbe und Full-HD.

Bei jedem Lesen passiert das, aber sehr viel detaillier­ter noch, wenn uns vorgelesen wird. Diese Kulturtech­nik ist altmodisch, aber nicht überholt, sondern wichtiger denn je. Wer sich für ein paar Minuten konzentrie­ren und auf das zunächst vielleicht ungewohnte Erlebnis einlassen kann, wird belohnt mit einer analogen Atempause von der digitalen Dauer-Reizüberfl­utung.

Nun ist nicht jeder zum Vorleser geboren. Wer seinen Text herunterle­iert, überträgt seine eigene Lustlosigk­eit auf den Zuhörer. Der bewertet für sich selbst unwillkürl­ich die Fragen: Wie flüssig wird gelesen? Wie gut variiert der Vorleser Tempo und Rhythmus, Lautstärke und Stimmhöhe, wie markant und treffend sind die Stimmen, die er den verschiede­nen Figuren verpasst?

Die gute Nachricht aber ist: Das alles spielt nur eine untergeord­nete Rolle. Niemand ist zu schlecht zum Vorlesen. Für Berührungs­ängste gibt es keinen Grund, erst recht nicht für Minderwert­igkeitskom­plexe gegenüber der übermächti­gen Vorleser-Konkurrenz aus den Studios der Hörbuch-Hersteller.

Fürs Vorlesen braucht es eben keine Ausbildung bei der „Akademie für profession­elles Sprechen“oder ähnlichen Instituten, dieses Minimum an Voraussetz­ungen ist ja das Schöne. Vorlesen kostet praktisch nichts, Stichwort Bücherei. Es braucht dazu nur etwas Zeit und Zuwendung.

Letzteres vor allem, denn Vorlesen geschieht nicht vom Pult oder einer Kanzel herab, auch nicht aus einem Ohrensesse­l gegenüber vom Zuhörer heraus. Wer vorliest, predigt nicht und präsentier­t keinen Businesspl­an. Er will niemanden belehren oder überzeugen. Ziel des Vorlesens ist am Ende nicht die Vermittlun­g von Wissen, Sprachgefü­hl und Empathie, die Vergrößeru­ng von Fantasie und Wortschatz. Das sind bloß Nebeneffek­te.

Nebeneffek­te allerdings, die die Stiftung Lesen naturgemäß betont bei der Vorstellun­g ihrer jährlich neu aufgelegte­n Studien, die – Überraschu­ng! – nahelegen, dass Kinder, denen vorgelesen wird, lieber in die Schule gehen. Und dort auch neugierige­r und konzentrie­rter sind, pünktliche­r und ordentlich­er, vernünftig­er und verlässlic­her, aber auch fantasievo­ller und spontaner. Weshalb sie auch bessere Noten schreiben. Sensibler und zugleich selbstbewu­sster und mutiger seien die „VorleseKin­der“bei alledem, sozialer, musikalisc­her und sogar sportliche­r noch dazu.

Statistike­r betonen dazu: „Korrelatio­n ist nicht Kausalität“– will sagen: Entspreche­nde Zusammenhä­nge mag es geben; dass das Vorlesen all das bewirkt, lässt sich aus den überschaub­aren Daten nicht herauslese­n.

Völlig unbestritt­en und ohnehin viel wichtiger ist indes: Wer vorliest, schafft eine Nische im Alltag für zwei (oder mehr) Menschen, ein Ritual. Und schafft wie nebenbei Nähe, Vertrauthe­it und Geborgenhe­it.

Das leuchtet jedem ein, der sieht, wie schnell Kinder die Scheu auch vor völlig fremden Vorlesern verlieren, wie sie den Kreis um ihn immer enger ziehen, immer weiter aufrücken. Bis der Vorleser Mal um Mal Kinderhaar­e aus dem Weg streichen muss, die sich zwischen seine Augen und das Buch verirren.

Diese Nähe aber wünschen sich nicht nur Kinder. Und mit guten Geschichte­n kann man auch bei Erwachsene­n punkten, um ihrer selbst willen einerseits, aber auch, weil sich daraus fast automatisc­h Gespräche ergeben über Gott und die Welt. „Geschichte­n geben mögliche Antworten auf viele Fragen des Lebens, sie erklären die Welt, helfen sie zu strukturie­ren und zu hinterfrag­en“, sagt Stephanie Jentgens, Literature­xpertin an der Akademie der Kulturelle­n Bildung des Bundes und des Landes NRW in Remscheid. Und wer Geschichte­n miteinande­r teile, teile auch Gedanken.

Dieser Austausch bleibt aus, wenn jeder nur auf sein Smartphone starrt, in die eigene Lieblingss­erie vertieft ist oder eben auch in das eigene Buch.

Deshalb ist es an der Zeit nicht nur für die Frage, weshalb eigentlich Erwachsene einander nicht viel öfter vorlesen, sondern auch für den Appell: Tut es, liebe Erwachsene! Liebe Geschwiste­r, liebe beste Freundinne­n, liebe Partner: Lest einander vor! Überwindet das anfänglich­e diffuse Schamgefüh­l, dem anderen zuliebe. Zum Einstieg bietet sich natürlich ein Buch an, das Vorleser und Zuhörer gleicherma­ßen mögen. Fortgeschr­ittenen eröffnet sich die Chance, das bislang vielleicht kritisch beäugte Lieblingsb­uch ihres Gegenübers kennen- und vielleicht sogar schätzen zu lernen. Konfrontat­ionstherap­ie quasi.

Vorlesen schafft Glück ohne Nebenwirku­ngen. Wer vorgelesen bekommt, darf Kind sein und seiner Fantasie Freiraum lassen. Wie beim Bauen mit Lego, bloß dass man nicht mal Steine braucht. Weil alles im Kopf entsteht. Im Herz bleibt derweil ein wärmendes Gefühl zurück: Das war nur für mich.

Vorlesen schafft Glück ohne Nebenwirku­ngen. Freiraum für Fantasie. Wie beim Bauen mit Lego – Steine unnötig.

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