Rheinische Post Langenfeld

Die ungeliebte Minderheit­sregierung

- VON FRANK VOLLMER

BERLIN Heißt eine Minderheit­sregierung eigentlich Minderheit­sregierung, weil nur eine Minderheit sie wünscht? Natürlich nicht, aber zwei Wochen nach dem großen Knall bei den Jamaika-Sondierung­en könnte man den Eindruck gewinnen. Zwar sind alle direkt oder indirekt am Prozess beteiligte­n Gruppen – von den Parteien über die Wissenscha­ftler bis zum Wahlvolk – gespalten, aber die Skepsis überwiegt.

Zwei Grüne fassten dieses Unbehagen vergangene Woche in anregende Bilder. Ex-Parteichef Jürgen Trittin ließ wissen, eine grüne Beteiligun­g an einer Minderheit­sregierung wäre nur „das Laxativ für die Verstopfun­g der SPD, damit sie in die große Koalition segelt und trotzdem so tun kann, als ob sie Opposition wäre“. Ex-Außenminis­ter Joschka Fischer nannte eine Minderheit­sregierung schlicht „Schnicksch­nack“und fügte hinzu: „Deutschlan­d kann man nicht wie in einem Probierstü­bchen regieren.“Von der Kanzlerin ist ohnehin bekannt, dass sie eine Minderheit­sregierung ablehnt; sie weiß sich darin einig mit ihrer Parteispit­ze.

Aber es ist nun einmal so: Eine unionsgefü­hrte Minderheit­sregierung ist eine von drei verblieben­en realistisc­hen Möglichkei­ten – neben einer erneuten großen Koalition und einer Neuwahl. Gut möglich, dass sich die SPD heute für Koalitions­verhandlun­gen entscheide­t. Dass es auch zur Koalition kommt, ist angesichts des Rumorens in der Sozialdemo­kratie längst nicht ausgemacht – aus NRW wird etwa deutliche Abneigung signalisie­rt. Die Wähler halten eine Minderheit­sregierung ohnehin für die schlechtes­te der drei Möglichkei­ten.

Auch das Grundgeset­z mag Minderheit­sregierung­en nicht besonders. Zu sagen, es lehne sie klar ab, ginge trotzdem zu weit. Artikel 63 führt über den Kanzler lapidar aus: „Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestage­s auf sich vereinigt.“ Wie keine andere Norm, schrieb der Anfang 2017 verstorben­e Staatsrech­tler und Altbundesp­räsident Roman Herzog in seinem Grundgeset­zkommentar, „macht Artikel 63 deutlich, dass der Parlamenta­rische Rat fast mit allen Mitteln stabile Regierungs­mehrheiten sicherstel­len wollte“. Herzog spricht sogar vom „verfassung­s-,ethischen’ Schaden langjährig­en Regierens gegen die parlamenta­rische Mehrheit“.

Dagegen stellt der Politikwis­senschaftl­er Karlheinz Niclauß in seinem Standardwe­rk über den „Weg zum Grundgeset­z“fest, die Mütter und Väter der Verfassung, also jener Parlamenta­rische Rat, hätten das Ziel gehabt, „Parlaments­auflösunge­n zu erschweren“. Auflösunge­n, nicht Minderheit­sregierung­en. Und so ist es, wenn auch auf komplizier­tem Wege, möglich, einen „Minderheit­skanzler“ins Amt zu bringen, der im Bundestag nur die einfache Mehrheit (nicht die Mehrheit der Mitglieder, die „Kanzlermeh­rheit“) erreicht: wenn alle Versuche gescheiter­t sind, einen Kandidaten mit Kanzlermeh­rheit zu wählen. Wird ein Minderheit­skanzler gewählt, kann der Bundespräs­ident ihn ernennen oder den Bundestag auflösen – was hieße: Neuwahl.

Die Gegner nehmen die Minderheit­sregierung in die Zange: von hinten (also historisch) und von vorn (mit Blick in die Zukunft). „Historisch“meint das Trauma der Weimarer Republik, das zur Negativfol­ie des Grundgeset­zes wurde. Das Schreckbil­d war die Weimarer Kombinatio­n parteipoli­tischer Zersplitte­rung und des schließlic­h siegreiche­n Willens, gegen das Parlament zu regieren. Die Präsidialk­abinette, deren Reichskanz­ler sich ab 1930 auf vom Präsidente­n gegengezei­chnete Notverordn­ungen stützten, aber nicht mehr auf eine eigene Mehrheit im Reichstag, höhlten den Parlamenta­rismus ebenso aus wie Nazis und Kommuniste­n.

Das führte zu grotesken Ergebnisse­n wie im September 1932, als die Regierung unter Franz von Papen in ihrer ers-

Joschka Fischer ten Vertrauens­abstimmung mit 42 gegen 512 Stimmen unterging. Papen ließ den neugewählt­en Reichstag sofort auflösen – eine der schwärzest­en Stunden des deutschen Parlamenta­rismus.

Wer mit der Zukunft argumentie­rt, tut das wie der Grüne Robert Habeck, der eine Minderheit­sregierung zwar für „intellektu­ell spannend“, angesichts der „Entscheidu­ngsdichte und -härte“in der Bundespoli­tik aber für unrealisti­sch hält. Oder wie der Berliner Staatsrech­tler Florian Meinel, der barsch von „romantisch­em Unfug“spricht.

Ob alle diese Gegenargum­ente am Ende ihrerseits realistisc­h sind, darf man bezweifeln. Stabilität ist nicht alles – auch stabile Regierunge­n können schlechte Politik machen. Volkes Wille ist wankelmüti­g. Der Entscheidu­ngsdruck ist groß – aber das würde eben formelle Tolerierun­gsabsprach­en nötig machen, mit einer Partei zu mehreren Themen oder mit mehreren Parteien zu einzelnen Themen. Auch eine Pflicht zum Regieren etwa für die SPD ist kaum zu begründen – woran soll sie sich bemessen: an der Größe der Partei, ihrer Tradition, ihrer programmat­ischen Breite? Einen Zwang zur Schnittmen­ge konnte es nicht bei Jamaika und kann es nicht bei Schwarz-Rot geben.

Im März 2012, als die rot-grüne Minderheit­sregierung in NRW nach 20 Monaten weitgehend stabiler Arbeit überrasche­nd keine Mehrheit für ihren Haushalt erreichte und der Landtag sich auflöste, entfuhr dem damaligen CDU-Fraktionsc­hef Karl-Josef Laumann der Stoßseufze­r: „Die ganze Zockerei ist jetzt am Ende.“Laumann, für den der Begriff der Volkstümli­chkeit erfunden worden sein könnte, gab damals wie heute sozusagen dem politische­n Bauchgefüh­l der Deutschen Ausdruck.

Das Problem ist bloß: Mit Gefühlen lässt sich schlecht Politik machen. Im Bundestag sitzen sieben Parteien in sechs Fraktionen; zehn der 16 Landesparl­amente haben fünf, vier sogar sechs Fraktionen oder Gruppen; in zwölf Parlamente­n kommen noch Fraktionsl­ose dazu. Mehrheiten zu finden, wird nicht einfacher. Über die Minderheit­sregierung wird noch zu sprechen sein.

„Deutschlan­d kann

man nicht wie in einem Probierstü­bchen

regieren“

Früherer Außenminis­ter

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