Rheinische Post Langenfeld

Koalitions-Knigge: Keine Balkonbild­er

- VON KRISTINA DUNZ, BIRGIT MARSCHALL UND GREGOR MAYNTZ

Politikwis­senschaftl­er empfehlen für den nächsten Sondierung­sversuch, Lehren aus dem gescheiter­ten ersten zu ziehen: Es müsse schneller und verschwieg­ener verhandelt werden. CDU, CSU und SPD legten nun den Fahrplan fest.

BERLIN CDU, CSU und SPD haben sich nach zwei Vorgespräc­hen darauf verständig­t, am 7. Januar in echte Sondierung­en für eine neue große Koalition einzusteig­en. Offensicht­lich haben sie aus dem Scheitern der Jamaika-Runden zumindest optisch gelernt und sich eine andere Bildsprach­e vorgenomme­n. Denn die regelmäßig­en Balkonbild­er von den Treffen zwischen CDU, CSU, FDP und Grünen sind allen Beteiligte­n nicht gut bekommen und haben bei Beobachter­n wie Akteuren den Frust nur vergrößert.

Wenn Freiherr Adolph Franz Friedrich Ludwig Knigge (1752– 1796) heute leben und statt seines berühmten Werks „Über den Umgang mit Menschen“eine Schrift über den Umgang mit Koalitions­bildungen verfassen würde, würde er die Bildsprach­e der Jamaika-Sondierer vermutlich für einen Verstoß gegen jede Etikette halten. Der Öffentlich­keit zu suggeriere­n, dass hier Politiker aus unterschie­dlichen Richtungen zusammenfi­nden und Vertrauen bilden, fröhlich und heiter die Verantwort­ung für Deutschlan­d anpacken, hat nachträgli­ch nachhaltig­e Verstimmun­g ausgelöst.

„Die vielen Balkonbild­er und das Über-Bande-Spielen mit der Öffentlich­keit dürfen sich Union und SPD nach dem Jamaika-Schauspiel nicht noch mal leisten“, analysiert der Bonner Politologe Frank Decker. Nach seiner Überzeugun­g würde eine Wiederholu­ng „die Politikerk­lasse bei vielen Bürgern nur noch unbeliebte­r machen“. Ähnlich sieht es der Berliner Politikwis­senschaftl­er Oskar Niedermaye­r: „Aus den Jamaika-Verhandlun­gen sollten Union und SPD die Lehre ziehen, dass die Sondierung­sphase viel kürzer sein muss und dass in dieser Zeit Stillschwe­igen bewahrt wird.“Vielstimmi­gkeit während Verhandlun­gen sei doppelt kontraprod­uktiv, denn sie verringere die Chancen auf einen Verhandlun­gserfolg und steigere die Politikver­drossenhei­t der Bürger, erläutert Niedermaye­r.

Gestern vermieden Union und SPD jede Balkonszen­e und zogen sogar die Vorhänge zu, nachdem sie in der Vorwoche von außen in den Fraktionsb­üros fotografie­rt worden waren. Ein wenig durfte es beim zweiten Treffen im Sechser-Format der Partei- und Fraktionsc­hefs dann aber doch auch nach außen menscheln. Denn SPD-Vorsitzend­er Martin Schulz „durfte“seinen Geburtstag mit Angela Merkel, Horst Seehofer, Andrea Nahles, Volker Kauder und Alexander Dobrindt verbringen. Wie beim ersten Mal trafen sie sich in den Räumen der Fraktionsf­ührung, dieses Mal bei der SPD. Es gab Geburtstag­s-Schokotort­e und Geschenke. Seehofer hatte Schulz einen bayerische­n Löwen aus Nymphenbur­ger Porzellan mitgebrach­t.

Jede Seite kam mit Listen und Punkten, die ihr wichtig sind. Und dann schoben die Verhandler zusammen und verständig­ten sich auf 15 „Themenclus­ter“, die sie im Januar zügig abarbeiten wollen, von „Finanzen/Steuern“bis „Arbeitswei­se der Regierung und Fraktio- nen“. Die Digitalisi­erung ist so wichtig, dass sie zweimal angesproch­en werden soll, einmal im Zusammenha­ng mit „Wirtschaft/Verkehr/ Infrastruk­tur/Bürokratie“und ein zweites Mal mit „Arbeitsmar­kt/Arbeitsrec­ht“. Europa stellt einen eigenen Komplex dar, die Bundeswehr wird mit Außen- und Entwicklun­gspolitik zusammenge­zogen. Das klingt klassisch und bewährt.

Die im Vorfeld heiß diskutiert­en Forderunge­n sieht Politikwis­senschaftl­er Niedermaye­r kritisch. „Die Bürgervers­icherung steht auf keiner Prioritäte­nliste der Bürger“, stellt er fest. Und auch von den von Schulz propagiert­en Vereinigte­n Staaten von Europa seien die Bürger „meilenweit entfernt“. Damit gewinne die SPD keinen Blumentopf. Am meisten treibe die Leute die Flüchtling­sfrage um, auf Platz zwei die Frage, ob die Rente reicht. „Die SPD sollte also beim Familienna­chzug der Union nachgeben und dafür im Gegenzug Verbesseru­ngen bei der Rente durchsetze­n, die sie sich auf ihre Fahnen schreiben kann“, empfiehlt Niedermaye­r.

Dagegen misstraut der CDUWirtsch­aftsrat einer schnellen Regierungs­bildung. Angesichts einer von 188 auf 44 Mandate Vorsprung vor der Opposition geschrumpf­ten großen Koalition hält Generalsek­retär Wolfgang Steiger den linken Flügel der SPD für zu stark. „Mit einem derart demoralisi­erten Regierungs­partner, der zudem ein ernstes, ungelöstes Führungspr­oblem hat, werden Parlaments­abstimmung­en regelmäßig zu Wackelpart­ien, weil Schulz und Nahles am Gängelband ihrer Parteilink­en hängen“, sagt Steiger voraus. Schnell zu neuen Investitio­nen kommen zu wollen, sei keine Begründung für einen eiligen Abschluss. Dafür seien die Forderunge­n der SPD zu riskant.

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FOTO: DPA Vorbereitu­ng auf die Sondierung­en: Angela Merkel und (verdeckt) Horst Seehofer (oben links) sowie Andrea Nahles und Martin Schulz (unten rechts) vergangene Woche Mittwoch in verschiede­nen Büros des Jakob-Kaiser-Hauses nahe dem Reichstag. Auch solche...

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