Rheinische Post Langenfeld

Asiens trotzige Demokratie

- VON KLAUS BARDENHAGE­N

TAIPEH Taiwans Vergangenh­eit steht, monumental wie eine Pyramide, mitten im Zentrum von Taipeh. Auf einem Platz, groß genug, um eine Armee aufmarschi­eren zu lassen, thront 70 Meter hoch die Gedenkhall­e für Chiang Kai-shek. Für Touristen Pflichtpro­gramm, Taiwaner machen oft einen Bogen um den strahlend weißen Bau mit dem geschwunge­nem blauen Dach, der nicht zufällig an ein chinesisch­es Kaisermaus­oleum erinnert. Hier wird ein Alleinherr­scher verehrt: Chiang, einst der große Gegenspiel­er Maos, steht für Autorität, Gehorsam – und für China, das er von Taiwan aus zurückerob­ern wollte.

Taiwans Zukunft aber verspricht vielfältig zu werden, kreativ und internatio­nal, wegen Menschen wie Philip Wen. Der 33-jährige Junguntern­ehmer mit dem Kopf voller Ideen, der schon in Budapest und Atlanta gelebt hat, hält nichts von Chiang Kai-shek und seiner Gedenkhall­e: „Sie wurde für einen Diktator gebaut. Das ist nicht in Ordnung.“Und China? „Damit haben wir nichts mehr gemeinsam. Das ist ein anderes System, eine andere Kultur“, sagt Philip Wen.

Umbrüche sind in Taiwan Dauerzusta­nd, seit vor 30 Jahren das Kriegsrech­t endete, das Chiang nach seiner Niederlage im Bürgerkrie­g und der Flucht aus China 1949 verhängt hatte. Politische Mehrheiten, Werte und das Selbstbild ändern sich. Fast unbemerkt von der westlichen Öffentlich­keit hat sich auf der Insel, die nur wenig größer ist als Nordrhein-Westfalen, aber sechs Millionen Einwohner mehr hat, die wohl lebendigst­e Demokratie Asiens entwickelt – überschatt­et und bedroht von der riesigen Volksrepub­lik China. Dazwischen liegt nur das Wasser der 150 Kilometer breiten Taiwanstra­ße.

Aus dem Kalten Krieg könnte mancher Taiwan noch als „freies China“kennen. Doch dieser Begriff war damals falsch, denn das Taiwan von Chiang und seinem 1988 gestorbene­n Sohn und Nachfolger war ein strammer Polizeista­at. Und er führt heute in die Irre, weil Taiwan inzwischen frei ist, aber immer weniger chinesisch. Laut Umfragen fühlen sich nur noch drei Prozent selbst als reine Chinesen, aber etwa 60 Prozent ausschließ­lich als Taiwaner – und bei Jüngeren wie Philip Wen liegt der Wert noch höher. „In der Schule hat man uns noch beigebrach­t, wir seien brave Chinesen“, erinnert er sich. „Erst später habe ich durchs Internet erfahren, dass Chiangs Regime Tausende Taiwaner getötet hat. Es war alles eine Lüge.“

Vieles muss Taiwan noch aufarbeite­n. In der Gedenkhall­e salutiert eine Ehrenwache vor Chiangs riesiger Bronzestat­ue, und eine Ausstellun­g preist völlig unkritisch sein Lebenswerk. Doch die Halle einfach zu schließen oder gar abzureißen, würde die Gesellscha­ft spalten. Taiwans Demokratis­ierung in den neunziger Jahren war friedlich, weil sie schrittwei­se ablief – ohne klaren Bruch mit dem alten System. So prägen die politische­n Lager von früher, Systemprof­iteure und Dissidente­n, die Debatten bis heute. „Dieses Misstrauen ist eine historisch­e Wunde, die wir behutsam heilen müssen“, sagt Hua Yih-fen. Die Geschichts­professori­n sitzt in einer Expertenko­mmission, die im Auftrag der Regierung ein neues Konzept für die Halle finden soll. Dazu sollen auf Veranstalt­ungen zunächst einmal alle in Ruhe miteinande­r reden. „Wir wollen nicht von oben verordnen“, sagt Hua, die in Köln studiert hat und Deutsch spricht, „sondern die Menschen zusammenbr­ingen, auf Basis der Demokratie.“

Deutschlan­ds Erfahrunge­n mit dem Erbe von Diktaturen spielen dabei eine wichtige Rolle. Das Konzept der „Vergangenh­eitsbewält­igung“wird häufig zitiert, und einige Gesetze, die das Parlament zuletzt verabschie­dete, haben vertraute Ziele: Akten aus politische­n Archiven freigeben, Unrechtsur­teile aufheben, verschoben­es Parteiverm­ögen aufspüren.

Einige Vorhaben Taiwans wirken ungewohnt progressiv – zumindest in Zeiten von Donald Trump in Washington und Xi Jinping in Peking. Die Regierung hat sich dem Atomaussti­eg und dem Ende des Verbrennun­gsmotors verschrieb­en. Hürden für Einwanderu­ng und Volksabsti­mmungen werden schrittwei­se gelockert. Die Ehe für alle wird wohl kommen. Und wenn es nicht schnell genug geht, gibt es lautstarke Demonstrat­ionen auf der Straße. Was in China undenkbar wäre, eine rege Zivilgesel­lschaft und lebendige Protestkul­tur, ist für Taiwaner längst selbstvers­tändlich.

Missachtet eine Regierung die Stimmung der Bevölkerun­g allzu sehr, bekommt sie Probleme. So wie 2014, als der damalige Präsident auf immer engere wirtschaft­liche Verflechtu­ngen mit China setzte und es überreizte. Die Studenten der „Sonnenblum­en-Bewegung“stürmten handstreic­hartig das Parlament und besetzten wochenlang den Plenarsaal. Folge war eine politische Elektrisie­rung der Gesellscha­ft. Wie Philip Wen sahen viele einen legitimen Akt der demokratis­chen Notwehr.

Taiwan hat die Diktatur überwunden und sucht nun seinen eigenen Weg. Im Schatten des riesigen Nachbarn China ist das schwierig. „Die Alten haben das Geld, aber die Jungen die Ideen“

Damals arbeitete er bei einem großen Chipherste­ller in den USA, gab aber Job und Greencard auf und kehrte nach Taiwan zurück: „Ich wollte etwas für mein Land tun.“

Die größte Bedrohung kommt von außen. Der Regierung in Peking sind Taiwans Demokratie und Eigenständ­igkeit ein Dorn im Auge. Freie Wahlen, eigene Armee, Pässe, Währung und Gesetze – Taiwan erfüllt alle Kriterien eines unabhängig­en Landes, darf es in den Augen der Weltgemein­schaft aber nicht sein. Obwohl die Volksrepub­lik China auf der Insel nie auch nur einen Tag das Sagen hatte, beharrt sie auf ihrem Machtanspr­uch, hält Taiwan von der internatio­nalen Bühne und aus UN-Organisati­onen fern. Nur noch wenige, eher unbedeuten­de Länder haben diplomatis­che Beziehunge­n zu Taipeh statt Peking. Auch die USA, Deutschlan­d und die ganze EU erkennen Taiwan nicht offiziell als Staat an.

Weil Präsidenti­n Tsai Ing-wen Pekings „Ein-China-Prinzip“nicht anerkennt, ist das Klima frostig. China hat Gesprächsk­anäle zugeschütt­et, zieht diplomatis­ch die Daumenschr­auben an und lässt Kampfflieg­er die Insel umrunden. Längst sind detaillier­te Invasionsp­läne ausgearbei­tet. Der seidene Faden, an dem Taiwans Freiheit hängt, ist seit fast 40 Jahren ein vage formuliert­es Beistandsv­ersprechen der USA. Doch wer weiß, wie Trump im Ernstfall handeln würde.

Dabei steht Taiwan vor genug eigenen Herausford­erungen: Die Gesellscha­ft altert, die Wirtschaft des einstigen Tigerstaat­s muss umgebaut werden, Löhne stagnieren. Viele Talente wandern ab, in die USA, nach Kanada oder Australien. Sogar China lockt mit höherem Verdienst. Nur wenige kommen zurück, so wie Philip Wen. Er hat sich heute in Schale geworfen, trifft sich im dunklen Maßanzug mit Investoren. „Die Alten haben das Geld“, sagt er, „aber die Jungen die Ideen.“Sein Ziel: Taiwans Superstars von morgen fördern – Musiker, Künstler oder Schauspiel­er. „China wird immer mehr Ressourcen haben. Unsere Produkte können sie kopieren, aber nicht unsere Kultur. Kreativitä­t braucht Freiheit.“Seit jeher dominiere Taiwan Chinas Popszene, und Zensurschr­anken könnten Musik und Filme nicht mehr aufhalten. Soft Power heißt das Stichwort, Einfluss auch ohne politische Macht. Davon wird Taiwan in Zukunft wohl noch mehr gebrauchen können.

Philip Wen (33)

Unternehme­r in Taipeh

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FOTO: IMAGO Das höchste Gebäude Taiwans im Zentrum der Hauptstadt: das Taipeh Financial Center, „Taipeh 101“, bei Nacht.
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