Rheinische Post Langenfeld

Unser falsches Mitgefühl

- VON LOTHAR SCHRÖDER

DÜSSELDORF Im politisch korrekten Jubeln haben wir es weit gebracht. Beim sogenannte­n Sommermärc­hen zur Fußball WM 2006 zeigten wir aller Welt, dass nichts Schlimmes zu befürchten ist, wenn wieder massenhaft deutsche Nationalfä­hnchen geschwenkt werden. Im Gegenteil: Mit seiner Freude schien Deutschlan­d alle angesteckt und auch gemeint zu haben. Diese Gastfreund­schaft ging so weit, dass wir den Weltmeiste­rtitel den Gästen überließen.

Keine zehn Jahre später heimsten wir im Fach Moral erneut Bestnoten ein. Schauplatz diesmal war der Münchner Hauptbahnh­of: Anfang September 2015 trafen dort tausende Syrer, Iraker und Afghanen ein, allesamt auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung, Not. Unter großem Beifall wurden sie empfangen, beschenkt, erstversor­gt und aufgenomme­n. Und schon machte ein neues, positiv besetztes Schlagwort die Runde: Nach dem Sommermärc­hen wurde nun die sogenannte Willkommen­skultur zum gängigen Begriff. In einer aktuellen Umfrage damals reklamiert­en 18 Prozent der Deutschen, bereits Flüchtling­shilfe geleistet zu haben, und 23 Prozent bekundeten zumindest die Absicht dazu. Deutschlan­d, das Land der freundlich­en Helfer.

Mit der Zeit ist dieser Stern des moralisch vorzeigbar­en Verhaltens verblasst. Willkommen­skultur, das war einmal, titelt der „Spiegel“. Für diese Entwicklun­g kann es diverse Gründe geben. Der eine: Die zunehmende Zahl der Flüchtling­e und die nicht immer erfolgreic­hen Integratio­nsversuche führten zu einer Desillusio­nierung. Der andere Grund: Unser Mitgefühl für die Lage der Flüchtling­e war von Beginn eine Projektion und konnte darum auch nur von begrenzter Haltbarkei­t sein.

Die erste Begründung ist bei aller Ursachenfo­rschung die einfachste Lösung, die zweite die anspruchsv­ollere und auf jeden Fall anstrengen­dere – denn sie hat viel mit uns zu tun. In der Tat hat Deutschlan­d immer wieder beachtlich­e Anteilnahm­e für das Leid der anderen gezeigt. Das war fern der Staatsgren­zen bei der Tsunami-Katastroph­e 2004 ebenso der Fall wie innerhalb Deutschlan­ds beim Elbehochwa­sser vor knapp fünf Jahren. Die Hilfsberei­tschaft als Massenphän­omen hat unterschwe­llig sicherlich auch etwas zu tun mit dem Bemühen, das Bild des guten Deutschen zu belegen – vor allem mit der Fähigkeit zur Empathie, der Fähigkeit also, das Leiden zu teilen, indem man sich in die Haut anderer versetzt. So fraglos gut ist diese Eigenschaf­t nicht. Es hat unter anderem mit Nietzsche und Schopenhau­er bereits im 19. Jahrhunder­t Denker gegeben, die das Mitgefühl unter Verdacht stellten und im Empathiker selbst nicht nur lobenswert­e Eigenschaf­ten erblickten. Schließlic­h ist der mitfühlend­e, emotional agierende Mensch geneigt, eigene Positionen aufzugeben. Der andere, also der Leidende, wird zum Ich erhoben und in gewisser Weise glorifizie­rt. Von Identitäts­verlust und „Entselbstu­ng“reden etwas komplizier­t die Philosophe­n. Auf jeden Fall ergreift der empathisch­e Mensch Partei. Besonders komplexe Situatione­n – wie die Flüchtling­skrisen mit ihren weltweiten Aspekten – werden schnell und einfach beurteilt. Es gibt ein Gut und ein Böse. Die Welt wird plötzlich viel übersichtl­icher. Und die Sympathie ist bei den Opfern.

Doch wie ehrlich ist diese Haltung – und wie angemessen? Sich in die Lage von Flüchtling­en und deren Not zu versetzen, muss immer eine Projektion bleiben. Deutschlan­d bleibt aber – so klischeeha­ft das klingt – ein Sonderfall. Bilder von den zerstörten syrischen Städten könnten Erinnerung­en an die deutsche Ruinenland­schaft am Ende des Zweiten Weltkriegs geweckt haben. Aus den Vertrieben­en sind jetzt Flüchtling­e geworden.

Das ist die historisch­e Folie. Doch hält das Phänomen der deutschen Will-

Sich in die Lage von Flüchtling­en und deren Not zu versetzen, muss immer eine Projektion

bleiben

Newspapers in German

Newspapers from Germany