Rheinische Post Langenfeld

3300 Lehrer auf dem zweiten Bildungswe­g

- VON LAURA IHME *SONSTIGE: PRIMUS- UND GEMEINSCHA­FTSSCHULE, WEITERBILD­UNGSKOLLEG | STAND: 25.08.2017 | QUELLE: SCHULMINIS­TERIUM | FOTO: DPA | GRAFIK: ZÖRNER

Seiteneins­teiger schwächen an vielen Stellen den Lehrermang­el in Deutschlan­d ab. Verbände fürchten aber einen Qualitätsv­erlust.

BERLIN Inklusion, Ganztag, Flüchtling­szuzug, Pensionier­ungswelle – Gründe für den bundesweit­en Lehrermang­el nennen die Länder viele. Aktuell sind rund 2000 Stellen an den Schulen unbesetzt. Das hat eine Umfrage unserer Redaktion bei den Schulminis­terien ergeben. Dass es nicht noch mehr sind, liegt vielerorts an den so genannten Quer- und Seiteneins­teigern. Das sind Personen, die zwar ein Studium oder eine Berufsausb­ildung abgeschlos­sen, aber nicht auf Lehramt studiert haben. Der Umfrage zufolge wurden allein 2017 mindestens 3300 von ihnen an den Schulen angestellt. Weil nicht alle Länder diese Zahlen erheben, waren es aber wohl noch mehr. Das wird von Lehrerverb­and und Gewerkscha­ft heftig kritisiert.

„Die Zahl der nicht besetzten Stellen klingt erst einmal nicht so dramatisch. Wenn man aber die Seiteneins­teiger dazurechne­t, die ja nur eingestell­t werden, weil es viel zu wenige voll ausgebilde­te Lehrer gibt, ist der Mangel sehr viel größer“, sagt Ulf Rödde von der Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft (GEW). In manchen Bundesländ­ern sei die Zahl der neueingest­ellten Seiteneins­teiger zudem ähnlich hoch wie die der neu eingestell­ten Lehrer. Ein Beispiel dafür ist Sachsen: Dort wurden im August zwar alle 1400 ausgeschri­ebenen Stellen besetzt, 720 davon jedoch mit Seiteneins­teigern. In Berlin sind unter den 3000 im Jahr 2017 neu eingestell­ten Lehrern rund 1200 Seiteneins­teiger. Das bedeute eine zusätzlich­e Belastung für die vorhandene­n Lehrkräfte, die die Kollegen nachschule­n müssten, so Rödde.

Bei den unbesetzte­n Stellen ist NRW Spitzenrei­ter: 1006 Lehrerstel­len waren zuletzt noch nicht besetzt. Nach dem Bevölkerun­gsanteil wäre zu erwarten gewesen, dass auf das Land nur ein Fünftel der unbesetzte­n Stellen entfällt. Auf Platz zwei steht der Umfrage zufolge BadenWürtt­emberg, wo 455 Stellen nicht besetzt sind und in Niedersach­sen konnten für 155 Stellen keine Lehrer gefunden werden. Insgesamt sei der Lehrermang­el zudem noch größer, sagt Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverb­andes: „Wenn man zum Beispiel noch dazurechne­t, was an Unterricht ausfällt und dass an zahlreiche­n Schulen auch fachfremd unterricht­et wird, gehen wir insgesamt von einem Mangel von 20.000 Lehrern aus“, sagt er. Durch den Einsatz von Seiteneins­teigern fürchtet er einen Qualitätsv­erlust in der Lehre. „Viele Seiteneins­teiger fangen häufig direkt mit der Arbeit an und werden nicht ausreichen­d pädagogisc­h geschult.“Die Länder betonen, dass jeder Quer- und Seiteneins­teiger gut ausgebilde­t wird.

Dazu hat fast jedes Land ein anderes System entwickelt – und andere Bezeichnun­gen eingeführt: So heißen die Kräfte mal Quer-, mal Seitenund mal Direkteins­teiger. Was sie eint, ist, dass sie keine Lehrbefähi­gung haben, also kein pädagogisc­hes Studium, sondern ein Fachstudiu­m oder eine Berufsausb­ildung absolviert haben. In NRW haben Seiteneins­teiger drei Möglichkei­ten: Hochschula­bsolventen, die zwei Fächer studiert haben, absolviere­n ein zweijährig­es Referendar­iat und legen eine Staatsprüf­ung ab. Kandidaten mit FH-Abschluss durchlaufe­n ein Programm an einer Berufsschu­le. Und Seiteneins­teiger, die nur ein Fach studiert haben, erhalten eine einjährige Zusatzausb­ildung, legen aber keine Staatsprüf­ung ab und bekommen am Ende keine volle Lehrbefähi­gung.

2017 hat Nordrhein-Westfalen bis Schuljahre­sbeginn rund 543 Seiteneins­teiger eingestell­t. Die meisten von ihnen (183) arbeiten an Berufskoll­egs, dicht gefolgt von Seiteneins­teigern an Grundschul­en (153). Dort ist auch der Lehrermang­el – wie in den meisten anderen Ländern – am größten: Es waren zuletzt noch 871 Stellen unbesetzt. Grundsätzl­ich sei es das Ziel der Landesregi­erung, freie Lehrerstel­len mit ausgebilde­ten Lehrern zu besetzen, sagt Schulminis­terin Yvonne Gebauer (FDP). „Aber besondere Situatione­n erfordern besondere Maßnahmen. Seiteneins­teiger helfen den Schulen dabei, die aktuelle Lehrerlück­e zu schließen und Unterricht­sausfall zu vermeiden“, sagt sie.

Meidinger schlägt indes andere Sofortmaßn­ahmen gegen den Lehrermang­el vor: Er will lieber pensionier­te Beamte in den Schuldiens­t zurückbeor­dern. Das geschieht etwa in Baden-Württember­g. Außerdem sollen zum Beispiel Gymnasiall­ehrer – von ihnen gibt es besonders viele – vermehrt für das Grundschul­amt umgeschult werden. In NRW bekommen Gymnasial- und Gesamtschu­llehrer mit einer bestimmten Fächerkomb­ination eine Einstellun­gsgarantie, wenn sie zwei Jahre lang an die Grundschul­e gehen.

Um dem Mangel langfristi­g vorzubeuge­n, fordert die GEW außerdem, dass mehr Studienplä­tze eingericht­et werden. Ebenso müsse die Kultusmini­sterkonfer­enz genauere Prognosen zum Lehrerbeda­rf liefern – auch um einen Schweinezy­klus zu vermeiden: Immer, wenn ein Mangel herrscht, beginnen viele ein Lehramtsst­udium. Wenn sie dann fertig sind, herrscht ein Überangebo­t. Am besten wäre es deshalb, fordern die Experten, wenn die Länder gleichblei­bend viele Lehrer einstellte­n.

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