INTERVIEW INGO KRAMER „300.000 Ausländer pro Jahr nötig“
Der Arbeitgeberpräsident warnt Union und SPD vor „Umverteilungs-Klein-Klein“und fordert sie auf, den Fachkräftemangel gezielter zu bekämpfen. Ein höherer Spitzensteuersatz und höhere Krankenkassenbeiträge für Betriebe seien falsche Signale.
BERLIN Verschiedener können die Welten kaum sein, in denen sich Ingo Kramer bewegt: Zuhause in Bremerhaven führt der stets gut gelaunte 64-Jährige ein mittelständisches Unternehmen für Schiffsbetriebstechnik. In Berlin vertritt der Arbeitgeberpräsident die Interessen von über einer Million Betrieben. Auch vier Monate nach der Wahl haben wir noch keine Regierung. Können wir uns das eigentlich leisten? KRAMER Eigentlich nicht! Denn wir stehen in Deutschland vor großen Herausforderungen. Das wird in Teilen der Politik und der Öffentlichkeit leider nicht so gesehen – nach dem Motto: Die Wirtschaft brummt, die Steuern sprudeln, die Sozialkassen sind gefüllt. Das täuscht darüber hinweg, dass auf uns zeitnah gravierende Veränderungen zukommen. Durch die wegbrechenden geburtenstarken Jahrgänge wird der Fachkräftemangel drastisch verschärft. Diese demografische Entwicklung wartet dringend auf politische Antworten. Wir müssen jetzt unsere Zukunft sichern. Union und SPD sprechen jetzt vor allem über Umverteilungsfragen … KRAMER Die Wirtschaft wünscht sich kein Umverteilungs-KleinKlein, sondern Antworten auf die Zukunftsfrage: Was müssen wir jetzt schnell tun, damit die Leistungsund Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft erhalten bleibt? Es geht dabei um drei Kernpunkte: Die Verringerung der Langzeitarbeitslosigkeit, die Steigerung der Frauenerwerbstätigkeit, mehr gezielte Zuwanderung. Wir reden heute viel zu viel über die Anwerbung von ausländischen Akademikern. Denn nur wir bilden Facharbeiter in unserem beruflichen Ausbildungssystem aus – diese sind für uns mindestens genauso wichtig wie Akademiker. Deshalb müssen wir künftig gezielt junge Menschen anwerben, die ihre Ausbildung bei uns machen, um diese Lücke zu schließen. Brauchen wir ein Zuwanderungsgesetz, das nicht nur auf Fachkräfte zielt, sondern auch auf Teenager? KRAMER Fest steht, dass wir deutlich mehr junge Menschen aus dem Ausland benötigen werden, die wir hier ausbilden können. Nach Schätzungen der Bundesagentur für Arbeit brauchen wir jedes Jahr 300.000 Menschen aus dem Ausland allein für Beruf und Ausbildung. Das geht über die Zahl der Flüchtlinge und Asylbewerber hinaus, die die Politik auf etwa 200.000 pro Jahr begrenzen will. Es geht doch um eine Änderung unserer gesellschaftlichen Grundhaltung zur Zuwanderung – weg von der Ablehnung der „Fremden“, hin zur gezielten Anwerbung von mehr ausländischen Fachkräften und jungen Menschen, die wir auch hier in Deutschland für unseren Arbeitsmarkt ausbilden können. Die Unterhändler von Union und SPD beraten darüber, ob es eine Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Krankenkassen durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer geben soll. Wäre das verschmerzbar? KRAMER Ich bin ein großer Anhänger der paritätischen Finanzierung des Gesundheitssystems. Ich befürworte das sehr. Dann müssen wir aber auch die Kosten für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall einbeziehen, die die Arbeitgeber heute alleine tragen. Sie macht pro Jahr mehr als 50 Milliarden Euro aus, was 3,9 Beitragssatzpunkten entspricht. An den Zahlen kann man ablesen, dass wir als Arbeitgeber schon heute mehr als die Hälfte der Krankheitskosten tragen. Man kann nicht von einer paritätischen Finanzierung sprechen, wenn es nur um den Beitragssatz geht. Zentraler Punkt ist, dass bei den Sozialbeiträgen die Grenze von 40 Prozent Belastung des Brutto-Einkommens auch in Zukunft nicht überschritten wird. Das ist meine feste Erwartung an eine zukünftige Regierung. Union und SPD verhandeln auch über die Anhebung des Spitzensteuersatzes. Welches Signal würde davon für die Wirtschaft ausgehen? KRAMER Eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes würde die weit überwiegende Mehrzahl der kleinen und mittelständischen Unterneh- men in Deutschland treffen: Diese sind als Personengesellschaften geführt und deshalb einkommensteuerpflichtig. Die deutsche Wirtschaft erwartet in Zeiten höchster Steuereinnahmen, dass die Spielräume genutzt werden, um Steuern zu senken, anstatt Unternehmenssteuern zu erhöhen. Sie fordern eine Reform des Arbeitszeitgesetzes, bei dem nur noch die Wochenarbeitszeit betrachtet wird. Geht es Ihnen nicht in Wahrheit um die Legitimation von Mehrarbeit? KRAMER Nein. Die gesetzlichen Arbeitszeitregeln sind nicht mehr zeitgemäß. Die Arbeitnehmer arbeiten aber nicht mehr, sie arbeiten anders. Unternehmen und Beschäftigte müssen heute die Möglichkeit haben, Arbeitszeiten gemäß den EURegelungen flexibler innerhalb eines Wochenrahmens zu vereinbaren – ohne die Arbeitszeit insgesamt Die IG Metall fordert im Tarifkonflikt befristete Arbeitszeitverkürzungen auf 28 Stunden pro Woche bei teilweisem Lohnausgleich für Mitarbeiter, die Kinder erziehen oder Eltern pflegen. Ist das realistisch? KRAMER Ich kann doch nicht sagen: Wer weniger arbeitet, kriegt dafür auch noch vom Arbeitgeber einen finanziellen Ausgleich. Es würde in einem Unternehmen den Betriebsfrieden stören, wenn einzelne Mitarbeiter ihre Arbeitszeit verkürzen können, dafür einen Lohnausgleich erhalten, während die Kollegen die Arbeit übernehmen müssen, aber nicht mehr Geld gezahlt bekommen. Ich möchte einen solchen Betrieb jedenfalls nicht leiten, der diese Konflikte aushalten soll. In kleineren und mittelständischen Betrieben sind solche Regelungen undenkbar. Auch durch die Ungleichbehandlung zu anderen Teilzeitlösungen ist dieser Ansatz schon rechtlich fragwürdig. DAS GESPRÄCH FÜHRTEN BIRGIT MARSCHALL UND EVA QUADBECK.