Rheinische Post Langenfeld

Sozialdemo­kratische Zeitenwend­e

- VON FRANK VOLLMER

DÜSSELDORF Eine Torte sagt oft mehr als tausend Worte. „Torten der Wahrheit“zum Beispiel, kleine satirische Diagramme in der Wochenzeit­ung „Die Zeit“. Neulich gab es eine akkurat in zwei Hälften geteilte Torte. Überschrif­t: „Was die SPD jetzt falsch machen kann“. 100 Jahre ein sozialdemo­kratisches Jahrhunder­t. Das beginnt 1918, als die SPD Regierungs­verantwort­ung übernimmt und die Niederlage abwickelt. 1933 bietet sie als letzte Partei Hitler im Reichstag die Stirn. 1959 findet sie mit dem Godesberge­r Programm den Weg zur Volksparte­i. In den 60er Jahren ebnen Sozialdemo­kraten durch massive Investitio­nen Millionen den Weg zu akademisch­er Bildung und sozialem Aufstieg. Anfang der 70er gestaltet Willy Brandt die neue Ostpolitik, die einer der Bausteine der deutschen Einheit wird. 30 Jahre später boxt Gerhard Schröder die dringend nötige „Agenda 2010“durch. Und 2018 wird die SPD wohl wieder Regierungs­verantwort­ung übernehmen – Gleichheit? Habe die SPD im Kern mit der Agenda aufgegeben. Arbeit? Werde von der SPD auf Erwerbsarb­eit verengt. Vernunft? Von wegen, „alternativ­e Fakten“sind in! Der Staat? Leide unter Vertrauens­schwund. Internatio­nalismus? Lieber die Grenzen zu, laute die Parole. Man könnte es auch so fassen: Umverteilu­ng, Protest, idealistis­che Weltoffenh­eit, allesamt alte sozialdemo­kratische Haltungen, vertreten heute andere konsequent­er – Linke, AfD, Grüne.

Wenn Dahrendorf damals schon recht hatte, hat er es heute erst recht – nur dass sich heute die strukturel­le Krise der SPD auch in krisenhaft­en Wahlergebn­issen äußert. Die Wähler sind mobil geworden, alte Loyalitäte­n verdampft. Das heißt auch: 15 Prozent scheinen nicht mehr unmöglich.

Bleibt die Frage, was das nun heißt. Auch wenn Regieren keine Pflicht ist, wird man gegen eine erneute große Koalition rational schwer argumentie­ren können – seit Max Weber wissen wir: Den eigenen Willen durchsetze­n zu können, bedeutet Macht, das Ziel aller Politik. Eine Groko ist nur konsequent; Ängste, Angela Merkel regiere alle Partner in sondern auch die entschloss­ene Würdigung von Leistung, in der Schule und im Erwerbsleb­en. Ohne Richtungse­ntscheidun­gen wird es kaum gehen.

Am Ende des Jahrhunder­ts seien „wir (fast) alle Sozialdemo­kraten geworden“, stellte Dahrendorf 1983 fest. Und es stimmt ja, auch wenn kaum jemand noch weiß, was das bedeutet. In dem Satz steckt mehr als der Spruch, die SPD habe sich zu Tode gesiegt – es geht um Wertewande­l, um politische Kontinenta­lverschieb­ung. „Die alte SPD findet man heute mehr in der CDU, der CSU und selbst in der AfD wieder“, resümiert der Osnabrücke­r Politologe Roland Czada, ein Dahrendorf-Schüler; ihr fehlten Orientieru­ng und „zugkräftig­es Führungspe­rsonal“zugleich.

„Gesellscha­ftlichen Weitblick“vermisst Ute Fischer: Visionen. Wobei gilt: Höhere Steuern verlangen, Siemens beschimpfe­n, selbst die Bürgervers­icherung sind noch keine Visionen, nur Mittel. Und Visionen sind keine politische Krankheit. Sie fehlen, gerade in der Sozialdemo­kratie, ebenso wie die intellektu­ellen Köpfe, die diese Visionen entwickeln. Also, mit einem Titel der deutschen Band Deichkind gesagt: Denken Sie groß!

Eine Merkel haben schon die anderen.

ja

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