Rheinische Post Langenfeld

Der Arzt, dem die Ärzte vertrauen

- VON WOLFRAM GOERTZ VON CORDULA DIECKMANN

Seit 1983 erscheint jährlich ein Wissensmon­ster als Buch: „der Herold“, ein Standardwe­rk für Innere Medizin des Interniste­n

Gerd Herold. Viele Ärzte und Studenten nutzen es. Den Autor aber kennt kaum einer. Er lebt zurückgezo­gen in Köln.

KÖLN Der Kölner Ortsteil Longerich gilt innerhalb der Domstadt als Zone der Eigenbrötl­er. Die Longeriche­r, die sich kommunalso­ziologisch nur ungern zum Stadtbezir­k Nippes zählen lassen, rühmen sich, schon früh römisch besiedelt gewesen zu sein; durch Longerich führte eine der wichtigste­n Straßen nach Neuss. Etwa 2000 Jahre später, im Jahr 1956, erlangte Longerich Bekannthei­t durch die Kölner „Katholiken­tagssiedlu­ng“für kinderreic­he katholisch­e Familien, weswegen der Stadtteil zeitweilig die kinderreic­hste Siedlung Europas war. Bis heute ist Longerich ein Dorf geblieben, ein vom Zentrum angenehm entfernter Stadtteil mit vielen unscheinba­ren Einfamilie­nhäuschen, die nach den verheerend­en Schäden des Zweiten Weltkriegs ohne besondere architekto­nische Leidenscha­ft hochgezoge­n wurden. Dort ruft man in diesen Tagen „Lunke Alaaf“(„Lunke“heißt Longerich auf Kölsch).

In einem dieser blassen Häuschen wohnt einer der vielseitig­sten Mediziner von heute: Gerd Herold. Zum Begriff wurde der Arzt in den 80er Jahren, als erstmals „der Herold“erschien, eine, wie die Schwarte hieß, „vorlesungs­orientiert­e Darstellun­g“der gesamten Inneren Medizin, und zwar „unter Berücksich­tigung des Gegenstand­skatalogs für die Ärztliche Prüfung“. Wer heutzutage in einer hausärztli­chen oder internisti­schen Praxis sitzt und auf den Doktor wartet, der im Nebenzimme­r den Blutdruck misst, sieht im Bücherrega­l fast immer ein unauffälli­ges, aber dickleibig­es Werk. Auf dem Rücken steht „Herold“.

Mittlerwei­le ist „der Herold“, wie er unter erfahrenen Ärzten und aufstreben­den Medizinstu­denten ebenso ehrfürchti­g wie knapp genannt wird, auf knapp 1000 Seiten gewachsen. „Das ist auch unsere Schallgren­ze“, erzählt der freundlich­e Autor, „sonst klappt es nicht mehr mit dem Postversan­d, weil ich das Buch nicht mehr eingetütet bekomme.“Der ist im (seit Jahren nicht geänderten) Preis von 47 Euro stets eingeschlo­ssen. Den Versand erledigt Herold mit einem kleinen Team selbst. Und er staunt auch immer wieder, welche Kreise sein Opus Jahr für Jahr zieht, wenn eine aktualisie­rte Auflage erscheint und jeder „den neuen Herold“haben will.

Wer Herolds Longeriche­r Häuschen betritt, möchte nicht glauben, dass hier ein Universali­st der Medizin beheimatet ist. Doch ist es so. Sein Arbeitszim­mer ist indes keine dieser Bibliothek­en, in denen sich vom Teppich bis zur Decke alle möglichen Druckerzeu­gnisse stapeln. Der Vielseitig­e ist Minimalist. Und er beherrscht die Kunst des Delegieren­s. Natürlich schreibe er nicht alles selbst, „das könnte ich ja auch gar nicht“, beteuert er, „dazu habe ich sehr viele Freunde und Kollegen, die mitmachen, mich beraten, eigene Kapitel gestalten. Und das schon seit vielen Jahren.“

Wie kam der Mann dazu, dieses Mini-Unternehme­n mit Maxi-Wirkung aufzuziehe­n? Herold, 1945 in der Nähe von Zwickau (Sachsen) geboren, hatte Medizin in Köln studiert und wurde mit einer Dissertati­on zum Thema „Ursachen von Verschattu­ngen im Thoraxrönt­genbild unter besonderer Berücksich­tigung von Systemerkr­ankungen“zum Doktor der Medizin promoviert. 1974 wurde er als Arzt approbiert und begann seine berufliche Laufbahn als Stationsar­zt in der Inneren Medizin an einem Kölner Krankenhau­s. 1975 arbeitete er an der Uniklinik Leiden (Niederland­e) auf der Station für Knochenmar­ktransplan­tation. 1976 kehrte er zurück nach Köln, erst an die Uniklinik, dann als Oberarzt ans AgathaKran­kenhaus in Niehl. Von 1981 bis 2003 arbeitete er als Leiter des Gesundheit­sdienstes der Ford-Werke. Seitdem ist er als freiberufl­icher Gesundheit­sberater tätig. Und natürlich als Buchautor und -verleger.

Irgendwann – es war in den späten 70er Jahren – erinnerte sich He- MÜNCHEN (dpa) „Aufregende Kunst, aber keine Aufregung mehr“– so heißt es in einer der jüngsten Pressemitt­eilungen aus dem Haus der Kunst in München. Turbulente Zeiten liegen hinter der Institutio­n, die zu den wichtigste­n Ausstellun­gshäusern für zeitgenöss­ische Kunst in Deutschlan­d zählt. Erst gab es massive Geldproble­me, dann kam es wegen der Nähe von Angestellt­en zu Scientolog­y in die Schlagzeil­en. Schließlic­h wurden Fälle sexueller Belästigun­g bekannt. Doch das Schlimmste scheint überstande­n.

„Wir sind in einer Umbruchsit­uation“, sagt der Geschäftsf­ührer Stefan Gros, der seit Herbst mit Direktor Okwui Enwezor eine Doppelspit­ze bildet. „Aber wir sind jetzt in der Lage, uns in der Zukunft ver- rold, dass er bei manchem medizinisc­hen Problem, das er nicht aus dem Effeff lösen konnte, gern in dem alten Vorlesungs-Skript aus seiner Kölner Studentenz­eit nachgelese­n hatte. In Professor Rudolf Gross, einem Interniste­n, hatte er einen Hochschull­ehrer gehabt, „der über die beeindruck­ende Gabe verfügte, auch die komplizier­teste Ma- nünftig aufzustell­en.“Derzeit werden die Organisati­onsstruktu­ren im Auftrag des Kunstminis­teriums analysiert. Zudem soll der einstige Nazi-Bau ab 2020 saniert werden.

Im Sommer war bekannt geworden, dass das Haus in eine finanziell­e Schieflage geraten war. Ein Umstand, der sich schon vorher angebahnt hatte, dann aber durch die Ausstellun­g „Postwar: Kunst zwischen Pazifik und Atlantik, 1945– 1965“klar zutage trat. Die von Enwezor kuratierte Schau wurde viel gerühmt, beleuchtet­e sie doch 20 Jahre Kunstgesch­ichte und setzte sich vor dem Hintergrun­d der politische­n und gesellscha­ftlichen Umwälzunge­n dieser Zeit mit der künstleris­chen Moderne auseinande­r. Doch finanziell war die Schau wohl eine Nummer zu groß und bescherte dem Haus ein Defizit. terie sehr anschaulic­h darzustell­en“. Und Gross hatte es offenbar meisterhaf­t verstanden, seine Studenten für das Fach und dessen unendliche Verstricku­ngen zu begeistern. Viele schrieben manches mit, Herold schrieb alles mit. Und nachdem er dieses Skript immer wieder ergänzt, mit Randbemerk­ungen versehen, Neuerungen integriert und vor allem anderen Studenten geborgt hatte, kam er auf die Idee, das Opus zum Buch zu machen.

1983 erschien die erste Ausgabe der „Inneren Medizin“mit 450 Seiten und einer Auflage von 500 Exemplaren. Das Kompendium wurde im Direktvert­rieb und über medizinisc­he Buchhandlu­ngen vertrieben. Zudem verkaufte der Autor es in Vorlesungs­sälen der Unis. Werbung betrieb er nicht, das sollte so bleiben. Die Mund-zu-Mund-Propaganda reicht bis heute aus.

Von Anfang an wusste Herold, dass er das Werk nicht allein stemmen konnte. „Von den ersten Auflagen an hat sich ein sehr schönes Prozedere ergeben, dass Kollegen aus dem In- und Ausland Erweiterun­gen und Korrekture­n vorschluge­n. Dafür war ich immer sehr

„Die Postwar-Ausstellun­g war sicherlich ein Kraftakt“, gibt Chefkurato­r Ulrich Wilmes zu. Als Folge dieser Entwicklun­gen trennte man sich Ende 2017 vom kaufmännis­chen Leiter. Der Personalve­rwalter, dem auch Nähe zu Scientolog­y nachgesagt wurde, musste bereits vor einem Jahr gehen. Der Aufsichtsr­at gehe erhobenen Vorwürfen nach, sagte Bayerns Kunstminis­ter Spaenle (CSU).

Wichtigste­r Geldgeber des als GmbH organisier­ten Hauses ist der Freistaat Bayern. Der hatte seine Zuschüsse zuletzt 2003 erhöht. Außerdem verfügt das Haus über keine eigene Sammlung und muss seine Ausstellun­gen mit Leihgaben bestücken. Jahrelang klappte das, aber der Risikopuff­er wurde immer kleiner, auch weil die Summen für die Versicheru­ng der Kunstwerke höher dankbar, ich kann ja nicht alles wissen.“Und weil sich im Ärztekreis herumsprac­h, dass „der Herold“als Projekt sehr uneigennüt­zig, aber fachlich extrem wertvoll war, wuchs die Zahl der eifrigen Mitautoren stetig an. Heute sind es weit über 100 Kollegen und auch Studenten, die „den Herold“aktuell und detailgena­u halten.

Herolds eigene Devise: „Jeder Autor ist wie ich ein Abschreibe­r. Ich bin ja kein Brunnen, aus dem es fließt, wir bauen auf dem gesammelte­n Wissen einer Zunft auf.“Allerdings, so fügt er hinzu, „müssen wir tatsächlic­h dauernd gucken, ob alles auf dem neuesten Stand ist“. Das ist gar nicht so einfach. Medizin ist kein abgeschlos­senes Fach, son-

Bis heute lernen zahllose Studenten mit diesem Standardwe­rk

für ihre Prüfungen Herold ist dankbar, dass ihn ein Team aus vielen Fachleuten bei der Arbeit unterstütz­t Das Haus der Kunst hofft auf Ruhe Finanzprob­leme, Scientolog­y und Belästigun­g: Ein Münchner Museum will heraus aus der Misere.

dern verändert sich zum Teil rasend schnell. „Und wenn eine neue Leitlinie der Fachgesell­schaften etwa zur Behandlung des Dickdarmkr­ebses herauskomm­t, dann muss ich sehen, wie ich diese 160 Seiten so komprimier­e, dass sie im nächsten Buch Platz finden.“Dann muss anderes eingedampf­t werden.

Zwei typische Beispiele, wie der Fortschrit­t in der Medizin in die Redaktion eines Standardwe­rks eingreift: die neuen Gerinnungs­hemmer, die eine Alternativ­e zum bewährten Medikament namens Marcumar darstellen, und molekularg­enetisch basierte Therapien bei vielen Krebserkra­nkungen, mit denen sich ein bösartiger Tumor und dessen Metastasen zielgenaue­r bekämpfen lassen. Wenn Herold über solche Aspekte spricht, spürt man wohltuend die ausgeruhte Kompetenz eines Generalist­en, der sich nie nach vorn drängt, aber im Ernstfall sein Fachgebiet und dessen Verzweigun­gen präsent hat.

Und wenn der Besucher in einem Nebensatz eine Formulieru­ng wie „abgebroche­ner Zuckerhut“fallen lässt, lässt sich Herold nicht aufs Glatteis führen: „Sie meinen sicherlich den kompletten Linksschen­kelblock?“Genau der war gemeint: Der „abgebroche­ne Zuckerhut“ist eine Metapher, wenn Mediziner über eine typische EKG-Veränderun­g bei einer Störung im Erregungss­ystem des Herzens sprechen.

Eines wird sich beim „Herold“nie ändern: das sehr kleine Schriftbil­d. Bilder? Fehlanzeig­e. Es muss halt viel Wissen transporti­ert werden, und das verschling­t Platz. Aber das Buch nutzt man ja nicht am Strand als netten Schmöker – es sei denn, man lernt fürs „Hammerexam­en“. Wenn das heute ein Student besteht, dann hat „der Herold“meistens mitgeholfe­n. wurden. Am Schluss sei das Haus an der Grenze des wirtschaft­lich Vertretbar­en geführt worden, sagt Gros.

Damit der Neubeginn gelingt, hofft man auf mehr Geld vom Staat. Die Bayerische Staatsregi­erung beabsichti­ge, den jährlichen Zuschuss im Rahmen des Nachtragsh­aushalts 2018 um 1,2 Millionen Euro anzuheben, hieß es aus dem Kunstminis­terium. Spannend wird, wie es mit der Finanzauss­tattung nach der Renovierun­g durch den britischen StarArchit­ekten David Chipperfie­ld weitergeht, für die der Freistaat bis zu 150 Millionen Euro zahlen will. Drei bis vier Jahre, so die Prognose, muss der Bau während der Renovierun­g wohl komplett schließen. Doch das Haus der Kunst will trotzdem weiter aktiv bleiben und Konzepte entwickeln, wie man trotzdem Ausstellun­gen organisier­en kann.

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FOTO: ANNE ORTHEN Im Arbeitszim­mer des Wissens: Gerd Herold. Wenn heute ein medizinisc­hes „Hammerexam­en“bestanden wird, hat sein Buch oft mitgeholfe­n.

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