Das Haus der 20.000 Bücher
Als Chimen und sein enger Freund Henry Collins, mit dem er seit Anfang der fünfziger Jahre an einer Reihe von Artikeln über Marx zusammengearbeitet hatte (sie waren einander in der Historikergruppe der Kommunistischen Partei begegnet), beschlossen, ihr Buch Karl Marx and the British Labour Movement. Years of the First International zu schreiben, bildeten die Bücher und Dokumente in Chimens und Mimis Schlafzimmer den Ausgangspunkt ihrer Recherchen. Danach hatte Chimen stets gestrebt, nun besaß er sie: eine Arbeitsbibliothek.
Die Forschungen nahmen fast ein Jahrzehnt in Anspruch. Chimen fiel es schwer, die Recherchen zu beenden und mit dem Schreiben anzufangen. Hin und wieder brachte einer der beiden ganze Abschnitte zu Papier, und dann las Chimen den Text noch einmal und teilte Collins mit, alles müsse ganz und gar um- formuliert werden. Dies frustrierte Henry gelegentlich. „Chim, du Superhirn!“, begann er einen Brief vom 6. März 1963. „Wo bleibt der Entwurf, den Du mir angekündigt hast . . . ? Ich glaube, wir sollten den Abschluss der Arbeit feiern.“Das Buch wurde schließlich 1965 von Macmillan veröffentlicht und weithin positiv aufgenommen, nicht nur von linksgerichteten Medien wie dem Daily Worker, sondern auch von etlichen etablierten und – überraschenderweise, angesichts der Thematik – sogar konservativen Zeitschriften in Großbritannien und Amerika. Der Economist, gewiss kein Freund des Sozialismus, publizierte einen Essay über das Buch, in dem Marx als der zweifellos größte Intellektuelle seiner Epoche bezeichnet wurde. Die Times rezensierte es, die New York Times war voll des Lobes. Ein Jahr nach der Veröffentlichung ließ mein Großvater seinen Verlag wissen: „Die führende historische Fachzeitschrift der Sowjetunion, Woprossy Istorii KPSS, hat unserem Buch einen sechseinhalb Seiten langen Artikel gewidmet, und obwohl sie sich zu ein paar Punkten kritisch äußert, räumt sie ein, dass es sich um eine wissenschaftlich fundierte Arbeit handelt.“Chimen, der acht Jahre zuvor aus der Kommunistischen Partei ausgetreten war und annahm, auf einer sowjetischen schwarzen Liste zu stehen, freute sich über die Aufmerksamkeit. Er schloss mit einer, wie ich hoffe, ironischen Note. „Meines Wissens ist es noch nie vorgekommen, dass eine sowjetische historische Fachzeitschrift einem Buch, das in der UdSSR nicht verkauft wird, so viel Platz zugestanden hat.“
Chimen wollte schon seit langem eine Marx-Biografie schreiben, ein Standardwerk für den englischsprachigen Raum. Bereits 1964 hatten Collins und er sich mit dem Vorschlag an mehrere Verlage gewandt und im September desselben Jahres einen Vertrag über das Projekt unterzeichnet. Nun, da sie ihr erstes Buch hinter sich gebracht hatten, stellten sie sorgfältig das Material zusammen, das sie für das gewaltige Vorhaben benötigen würden. Wiederum war Chimens Bibliothek ihr Ausgangspunkt; daneben benutzten sie die British Library, das Archiv des Marx House in London, das Internationale Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam sowie eine Vielzahl anderer Bibliotheken. Aber die Biografie sollte nicht zustande kommen. Nach einigen Jahren gemeinsamer Arbeit an dem Projekt erkrankte Collins an Krebs und starb 1969 nach kurzer Leidenszeit. Chimen war am Boden zerstört. Während der Beerdigung schluchzte er ungehemmt. Zwar sprach Chimen mitunter davon, das Projekt allein fortzusetzen, doch die Biografie rückte mehr und mehr in den Hintergrund.
(Fortsetzung folgt)