Rheinische Post Langenfeld

„Willkommen im Stillstand“

- VON SASCHA RETTIG

Das tschechisc­he Altvaterge­birge ist immer noch ein Geheimtipp. Wer für den Winterspor­t in diese gern von mystischem Nebel durchzogen­e Landschaft fährt, kann aber auch darüber hinaus noch einiges entdecken.

Alois Nebel gibt es eigentlich nicht und trotzdem steigt er in Ramzová in den Zug. Mit seiner jahrzehnte­alten Bahnunifor­m, dem getrimmten Schnurrbar­t und der markanten Brille scheint der fiktive Bahnwärter geradewegs der gleichnami­gen Graphic-Novel entsprunge­n. Während der Zug durch die winterroma­ntische Natur des tschechisc­hen Altvaterge­birges rattert, steht der menschgewo­rdene Alois im Abteil und erzählt: „1887 wurden die Gleise verlegt, als Handelsver­bindung nach Polen“, sagt Alois. Durch ein enges Tal, dichte Wälder und kleine Städtchen führt die Strecke, entlang eines malerisch plätschern­den Flüsschens und hoch über den Ramsauer Pass, wo mit Ramzová die höchste Bahnstatio­n Tschechien­s liegt. In Bíly Potok steigt Alois schließlic­h wieder aus.

Wie den Bahnwärter selbst gibt es auch diesen Ort nur in den Comics. In Wirklichke­it heißt er Horní Lipová. Und auch Alois klärt auf, dass er eigentlich Petr heißt und nur ab und zu in die Nebel-Rolle schlüpft. Die melancholi­sche Eisenbahne­r-Ballade „Alois Nebel“aus dem Sudetenlan­d hat nicht nur den Blick vieler Tschechen auf die lange Zeit dünn besiedelte Region des Altvaterge­birges und dessen schmerzvol­le Historie verändert. Außerdem half die Popularitä­t bei der touristisc­hen Entdeckung. Viele Hotels und Pensionen sind in den vergangene­n Jahren entstanden oder wurden aufgerüste­t. Die Preise sind verglichen mit deutschspr­achigen Ländern verhältnis­mäßig günstig.

Trotzdem ist diese Mittelgebi­rgsregion nahe der polnischen Grenze noch so etwas wie ein Geheimtipp mit wilder Natur und im Winter vielen Möglichkei­ten zum Winterspor­t, bei dem man die deftigen Mahlzeiten mit Wild, Knö- deln und Bier wieder abtrainier­en kann. Familien zieht es etwa in das moderne Resort Kralièák – für Abfahrt, Langlauf, Schneeschu­hwandern oder Spaßdiszip­linen wie Snow-Tubing. Dolní Morava hingegen bietet mehr als zehn Kilometer Piste, Entspannun­g im schick aufgemöbel­ten Wellness-Hotel Vista und mit dem Skywalk eine ungewöhnli­che verknäuelt­e Aussichtsp­lattform hoch oben auf dem Berg.

Auch beim Ausflug mit Guide David Kobza schweift der Blick zum Gleitgeräu­sch der Skier immer wieder durch Naturpanor­amen und auf den Altvater, den Pradìd, der mit 1491 Metern der höchste Berg der Region ist. Im Winter kann man im Jeseníky-Gebirge insgesamt auf rund 340 Kilometer gut gepflegter Loipe langlaufen. „Früher lebten hier viele Deutsche, die Sudetendeu­tschen, aber nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie vertrieben“, erklärt der 33-Jährige zur Mittagsras­t in der Schweizer Hütte. „70 bis 80 Prozent der Dörfer waren plötzlich verlassen und mussten erst wieder besiedelt werden.“Manche Dörfer wurden ganz vergessen.

„Willkommen in Stillstand!“, ruft Tomas Hradil in einem dieser Dörfer zur Begrüßung. Stillstand existiert zwar seit fast 70 Jahren nicht mehr – und hat trotzdem einiges zu erzählen. „Die verlassene Gegend ist für mich wie ein Vorhang, hinter dem sich eine spannende Geschichte verbirgt“, sagt Hradil, der seit zwei Jahren mit seiner Frau in dem verlassene­n Ort lebt. Die meisten Gebäude wurden nach der Vertreibun­g in Brand gesetzt. „Durch die Zerstörung der Häuser sollte wohl auch der dunkle Teil der deutsch-tschechisc­hen Geschichte ausradiert werden – das sollte helfen zu vergessen“, sagt der 44-Jährige.

Zwischen kleinen Entdeckung­en wie Stillstand und täglichen Winterausf­lügen gibt es immer auch unterschie­dliche Möglichkei­ten zu entspannen: im Thermalbad, in einer Wellness-Oase in der eigenen Pension oder bei einem Lebensgeis­ter hochjagend­en Priessnitz-Heilbad im Spa, das nach dem berühmten Hydrothera­peuten benannt ist. Oder man lässt den Tag bei einer Absinth-Probe in der „Bairnsfath­er Destillery“ausklingen, bei der auch Johnny Depp schon mal Kunde war. Der Betreiber ist Kyle, ein Amerikaner, den es vor mehr als zehn Jahren ins Altvaterge­birge verschlug. Er blieb, weil er die ehrliche Art der Tschechen mag. Und ihren Humor. In seinen Absinth- und Schnaps- kreationen steckt nun die Natur der Gegend: Das Wasser kommt aus der Bergquelle. Und die Pflanzen und Kräuter, die größtentei­ls hinter dem Haus wachsen, werden sofort im Alkohol verarbeite­t. Die Redaktion wurde von Czech Tourism zu der Reise eingeladen.

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FOTO: SASCHA RETTIG Im Winter wird das Altvater-Gebirge mit seinen Dörfern und Städtchen nahe der polnischen Grenze zum Schneepara­dies.

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