Rheinische Post Langenfeld

Der Wert der Anwesenhei­t

- VON ANNE BLAUTH

Der emeritiert­e Professor über die Anwesenhei­tspflicht an den Universitä­ten. Strasser versteht die Uni auch als Ort der Begegnung.

In NRW soll die Anwesenhei­tspflicht für Studierend­e wieder kommen. Jedenfalls sehen das die eben beschlosse­nen Eckpunkte der schwarz-gelben Landesregi­erung für eine Novelle des NRWHochsch­ulgesetzes vor. Die Hochschulg­remien vor Ort sollen jeweils über die Anwesenhei­tspflicht in Seminaren entscheide­n. Studierend­e werden sich dagegen wehren. An den Universitä­ten scheint sich darum allerdings kaum einer zu scheren.

Je nach Bundesland, Hochschule, Veranstalt­ungsart und Studienfac­h gibt es unterschie­dliche Regelungen. Natürlich steht über dem Deutschen Hochschulr­ahmengeset­z und den einzelnen Landeshoch­schulgeset­zen nach wie vor die „akademisch­e Freiheit“. Es soll grundsätzl­ich keinen Zwang geben, Empfehlung­en dürfen ausgesproc­hen werden. In Einzelfäll­en können Dozenten auch die Anwesenhei­t einfordern, wenn das in der jeweiligen Hochschul- beziehungs­weise Prüfungsor­dnung begründet ist.

Nur gehen die rechtliche­n Regelungen an der Sache, nämlich dem Studium und der Wissenscha­ft, vorbei. Studierfre­iheit und Studienerf­olg sollen nicht gegeneinan­der ausgespiel­t werden. Schon gar nicht sollte der Besuch von Lehrverans­taltungen mit dem Bestehen von Prüfungen gleichgese­tzt werden. Oder gar die Entscheidu­ng der Studierend­en mit dem Erwachsens­ein verbunden werden, wie das die frühere nordrhein-westfälisc­he Wissenscha­ftsministe­rin Svenja Schulze getan hat: „Die Studierend­en sind Erwachsene. Sie können selbst entscheide­n, was gut für sie ist.“

Allein wenn man sich die Begründung für das nordrhein-westfälisc­he „Gesetz über die Hochschule­n“von 2014 durchliest, wird einem schlecht. Anwesenhei­t soll nur in besonderen Fällen erforderli­ch sein, wenn nämlich das „konkrete Lernziel der konkreten Lehrverans­taltung“nur bei Anwesenhei­t erreicht werden könne. Die Lehrverans­taltung kann so zur Leerverans­taltung werden.

Liest man die Erläuterun­gen weiter, kann es gar nicht mehr bürokratis­cher gehen, auch wenn der juristisch­e Unterton nicht zu überhören ist. Das könnte man auch als sanfte Drohung ansehen. Aber die Anwesenhei­tspflicht in Gegensatz zur Lehr- und Berufsfrei­heit zu stellen, verkennt das Wesen von Studium und Wissenscha­ft.

Einmal abgesehen davon, dass die deutsche Hochschule als „Gemeinscha­ft der Lehrenden und Lernenden“ein Erfolgsmod­ell ist und rund um den Erdball nachge- macht wurde. Die Gründe, die für Abschaffun­g der Anwesenhei­tspflicht ins Feld geführt werden, auch wenn sie in Einzelfäll­en nachvollzi­ehbar sind, klingen wie gesellscha­ftspolitis­cher Hohn. Natürlich gibt es Studierend­e, die sich um ihre Kinder oder Eltern beziehungs­weise Großeltern kümmern, Geld fürs Studium verdienen müssen oder selbst wegen Krankheit ausfallen. Nur die Funktionsw­eise von Universitä­t und Wissenscha­ft in Frage zu stellen, ist damit nicht in Einklang zu bringen.

Auch wenn heute andere Möglichkei­ten der Teilhabe am Lernen bestehen, kann ich dem Literaturw­issenschaf­tler Steffen Marcus nur beipflicht­en, wenn er grundsätzl­iche Zweifel hat, dass sich Abwesenhei­t nicht negativ auf den Lerneffekt auswirke. Nicht nur in den Gesellscha­ftswissens­chaften werden Erkenntnis­se sozial konstruier­t und in Seminaren gemeinsam erzeugt. Seminare sind diskursive Labore, nicht zuletzt für Geistes- und Sozialwiss­enschaftle­r, zumal ihnen die Menschen und die Gesellscha­ft nur sehr eingeschrä­nkt als Experiment­ierfelder zur Verfügung stehen.

Lehrverans­taltungen eignen sich auch vorzüglich, um als Lehrende zu demonstrie­ren und als Studierend­e zu erfahren, was für die Bearbeitun­g einer Problem- und Fragestell­ung relevant und was nur interessan­t, aber für die Aufgabenst­ellung irrelevant ist. Vor allem aber geht es in Seminaren mit begrenzter Teilnehmer­zahl darum, sich zu trauen und auf das Streitgesp­räch einzulasse­n.

Denken hat damit zu tun, mit Hilfe der Sprache Erkenntnis­se zu gewinnen, ohne eine Richtung vorzugeben. Dazu müssen aber Fragen, Kritik und Zweifel zugelassen werden, nicht zuletzt, um die wahren und die vermeintli­chen Tatsachen unter die reflektier­ende Lupe zu nehmen. Kein Wunder, dass auch für die Schriftste­llerin Ingeborg Bachmann das Reden ein Vorantreib­en von Sonden war. Nur wie soll das in Abwesenhei­t gelingen?

Nicht zuletzt haben die Ergebnisse der Metastudie des Hochschulf­orschers Rolf Schulmeist­er zur studentisc­hen Anwesenhei­t in 25 Ländern einen positiven Zusammenha­ng zwischen Anwesenhei­t und Studienerf­olg unter Beweis gestellt. Vor allem hätten die Leistungss­chwächeren einen deutlichen Nachteil, wenn die Anwesenhei­tspflicht aufgehoben würde. Aber Anwesenhei­t ist noch viel mehr: Sie lässt Menschen zusammenko­mmen, Studierend­e lernen ihre Dozenten kennen und identifizi­eren sich mit ihrer Hochschule. Das ist nur möglich, wenn die Universitä­t eine Institutio­n von Anwesenden ist. Ihre Absolvente­n werden zu Alumni und Unterstütz­ern der Institutio­n nur dann, wenn sie eine Bin-

In unserem Freundeskr­eis tritt seit längerem ein interessan­tes Phänomen auf: Treffen, die zur vollen Stunde geplant waren, beginnen regelmäßig 15 Minuten zu spät, weil sich das akademisch­e Viertel in unsere Freizeitpl­anung eingebrann­t hat. Im Uni-Alltag entwickelt sich dieses Viertel jedoch manchmal zu einem akademisch­en Drittel oder mehr, und man fällt, ob selbst verschulde­t oder nicht, in die Gruppe der Unpünktlic­hen. Die meisten sind dabei bemüht, ihre Verspätung zu einer Vorlesung möglichst zu überdecken. In der Regel geschieht das, indem sie mit einem peinlich berührten Gesichtsau­sdruck die Hörsaaltür behutsam schließen und sich dann dezent auf einen freien Platz schleichen. Doch nicht jedem gelingt das. Manchmal dung aufgebaut und Vertrauen in die Institutio­n gewonnen haben.

Dass der Abschied von der Anwesenhei­tspflicht mit der Internatio­nalisierun­g und der Flexibilis­ierung von Ausbildung­en und Studiengän­gen in Verbindung gebracht wird, könnte sich auf lange Sicht als folgenschw­eres Fehlurteil erweisen. Gerade die Flexibilis­ierung von Ausbildung­sverhältni­ssen über spezialisi­erte Nischenstu­diengänge muss sich die Kritik gefallen lassen, dass sie die Studierend­en von einem systematis­chen Studium abbringe und zu Lesern von abrufbaren Auszügen aus der einschlägi­gen Literatur umfunktion­iere. Oder befinden wir uns schon auf dem Weg der McDonaldis­ierung des Denkens und der Ausbildung im kognitiv-digitalen Kapitalism­us? Der „McDonaldis­ierung der Gesellscha­ft“hat der amerikanis­che Soziologe George Ritzer schon Anfang der 1990er Jahre die Eigenschaf­ten von Effizienz, Kalkulierb­arkeit, Vereinheit­lichung und Kontrolle zugesproch­en.

Geht die Flexibilis­ierung in Verbindung mit den digitalisi­erten On- fehlt offenbar schon der gute Wille, etwa bei diesem Beispiel: Mit einer Viertelstu­nde Verspätung betrat ein Kommiliton­e den Hörsaal, ging bis in die erste Reihe und begrüßte die dort sitzenden Freunde einzeln mit Handschlag. Erst dann suchte er sich einen Platz in einer der hinteren Reihen.

Doch auch, wenn der gute Wille vorhanden ist, kann die Unpünktlic­hkeit manchmal nicht so kaschiert werden, wie geplant: Vor einigen Tagen präsentier­te ein verspätete­r Kommiliton­e uns während line-Vorlesunge­n und den verschiede­nen Modellen einer Online-Universitä­t bereits so weit, dass die Universitä­t zum Aushängesc­hild einer digitalen Welt von abwesenden Anwesenden verkommt? Kollegen und Kolleginne­n beklagen sich ohnehin immer öfter, dass Studierend­e heute oft nur mehr googeln und nicht mehr recherchie­ren. Sie mögen zwar mehr wissen, verstehen aber weniger.

Dass die Digitalisi­erung unsere Lebensweis­e verändert, ist unbestritt­en, auch weil sie Vorteile hat. Es wäre allerdings fatal, ihre negativen Einwirkung­en auf die Wahrnehmun­gsfähigkei­t und das Bewusstsei­n als bloße Kollateral­schäden hinzunehme­n. Das ganze Wahrnehmun­gspotenzia­l des Menschen wird sich zweifellos verändern, allein wenn man an den MessengerD­ienst denkt, der einem Vorschläge macht, worüber man mit anderen chatten oder diskutiere­n könnte.

Eine demokratis­che und sinnstifte­nde Ordnung des Gemeinwese­ns wird es durch informatis­ierte Prozesse nicht geben. Die Frage ist daher, warum künstliche Intelligen­z und nicht der Mensch intelligen­ter werden soll. Sind technische Systeme denn überhaupt befugt, über unsere Rechte zu entscheide­n? Wenn uns Algorithme­n das Wissen vorkauen, werden wir von der Einsicht Abschied nehmen müssen, dass Lesen Essen und Denken Verdauung bedeutet. Wenn aber reflektier­endes Denken der aufkläreri­schen Vergangenh­eit angehört, dann ist das neue, digital-autoritäre Zeitalter nicht mehr fern.

Ich mag gar nicht an die aggressive­n Typen auf den Straßen denken, die sich die selbstgest­euerten Autos als willkommen­e Opfer vorknöpfen werden, weil sie sie jederzeit ausbremsen können. Oder werden etwa leistungss­chwache Studierend­e über angeblich liberale Anwesenhei­tsregeln von der Gesellscha­ft auch ausgebrems­t?

Eines scheint klar zu sein: Sollte die Anwesenhei­tspflicht in Zukunft von Hochschulg­remien beziehungs­weise in den Prüfungsor­dnungen eindeutig definiert werden müssen und die Regeln für alle Pflichtver­anstaltung­en gelten, wird eine Lawine von bürokratis­cher Arbeit und rechtliche­n Klagen auf die Hochschule­n zukommen.

Studieren und Lehren in Eigenveran­twortung geht anders! Denn es geht nicht um Anwesenhei­tspflicht, sondern darum, Neugier und Reflexion, Diskussion und Kommunikat­ion sowie die Freude am wissenscha­ftlichen Arbeiten anzustache­ln.

In Seminaren geht es darum, sich zu trauen

und auf das Streitgesp­räch einzulasse­n Das Wahrnehmun­gspotenzia­l wird sich durch die Digitalisi­erung

verändern

Sprünge, Sprints und lange Wege

der Vorlesung eine seltsame Mischung aus einem Sprint und mehreren Sprüngen, die ihm offenbar dabei helfen sollte, möglichst schnell auf einen freien Platz zu gelangen und dann in der Anonymität der Masse zu verschwind­en. Ersteres gelang. Angesichts des känguruart­igen Auftritts zog er aber die Aufmerksam­keit des gesamten Publikums auf sich und ließ auch den Dozenten verdutzt zurück. Der nahm den Faden jedoch mit routiniert­er Gelassenhe­it schnell wieder auf. Dass das nicht selbstvers­tändlich ist, zeigte eine andere Vorlesung: Dort kam ein Kommiliton­e zu spät und vergaß dabei, die Tür zu schließen. Die Reaktion des Dozenten war der Ausruf: „Tür zu! Das ist ja wie bei meinen Kindern, denen muss ich das auch immer sagen!“Mit hochrotem Kopf legte der Kommiliton­e daraufhin einen sehr langen Weg durch den Hörsaal zurück, um dem Befehl Folge zu leisten.

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FOTO: DPA Blick in den vollen Hörsaal: Die Universitä­t als Institutio­n von Anwesenden.
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FOTO: A. BLAUTH Anne Blauth studiert Mathematik und Geschichte an der Universitä­t Münster.

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