Rheinische Post Langenfeld

Sport – Schulfach ohne Lobby

- VON STEFAN KLÜTTERMAN­N

Wäre der Sportunter­richt in Deutschlan­d ein Lkw, die Polizei hätte ihn längst aus dem Verkehr ziehen müssen. Wegen massiver Überschrei­tung des zulässigen Gesamtgewi­chts. Denn genau das ist der Sportunter­richt: völlig überladen. Ein Kleintrans­porter, dessen Achsen ächzen unter der Masse der Erwartunge­n und Anforderun­gen. Sportunter­richt soll die Persönlich­keit herausbild­en, Sozialkomp­etenz formen, in jedem Fall die Gesundheit fördern und Integratio­n lehren. Er soll Prävention betreiben, Inklusion leisten, Ehrgeiz wecken, Freude an Bewegung herauskitz­eln, Erfolgserl­ebnisse vermitteln, alle Sinne ansprechen und am Ende Schüler so motivieren, dass sie auch in der Freizeit Sport treiben.

Es bräuchte also einen Schwertran­sporter, um den Sport als Schulfach adäquat auf den Weg zu bringen. Aber ein solcher Unterbau existiert nicht – nicht in puncto Ausstattun­g mit Lehrern, nicht in Sachen Hallen, und schon gar nicht beim Thema Anerkennun­g. „Der organisier­te Sport macht sein Ding, ist sportpolit­isch vertreten und positionie­rt sich in freiwillig­en Schulsport­angeboten. Für Sportunter­richt fühlt sich so recht keiner verantwort­lich“, sagt Michael Fahlenbock, Vorsitzend­er des Deutschen Sportlehre­rverbandes.

Wobei, so richtig stimmt das nicht. Es fühlen sich viele für den Sportunter­richt verantwort­lich – allerdings nur auf dem Papier. Für wohl kein anderes Schulfach existieren derart viele Schaufenst­erreden, Handlungse­mpfehlunge­n und gut gemeinte Hinweise. Was aber fehlt, ist die Lobby in der Praxis. Im Alltag. Eine Lobby, die aus der allgemeine­n Forderung nach modernen Sporthalle­n und Schwimmbäd­ern das konkrete Bemühen um die Renovierun­g der Grundschul­turnhalle vor Ort macht. Eine Lobby, die aus dem allgemeine­n Hinweis auf der Internetse­ite des NRW- Schulminis­teriums, der Sportunter­richt gehöre „neben Deutsch und Mathematik zu den Fächern mit dem insgesamt höchsten Stundenumf­ang“, die konkrete Absicht ableitet, dass Schüler auch tatsächlic­h drei Stunden Sportunter­richt pro Woche erhalten. Eine Lobby, die den schriftlic­h verankerte­n Anspruch, dass jeder Grundschül­er am Ende der 4. Klasse schwimmen können muss, auch konkret umsetzt.

„Der Sport an sich, also der Vereins-, Wettkampf- und Spitzenspo­rt, hat eine starke Lobby und erfährt in den zuständige­n Ministerie­n viel Resonanz. Der Sportunter­richt ist da abgekoppel­t“, sagt Michael Fahlenbock, Akademisch­er Direktor am Institut für Sportwisse­nschaft der Universitä­t Wuppertal. Mit seinem Verband sieht er sich als Stimme der Kollegen. Oft genug ist es die einzige Stimme. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) kümmert sich um Leistungs- und Breitenspo­rt. Sportunter­richt zählt nicht zu seinen Kernthemen. Wenn der DOSB marode Schwimmbäd­er und Sporthalle­n anprangert, dann spricht er originär für die Vereine. Nicht für Schüler.

Auf der Verwaltung­sebene fühlen sich die Sportlehre­r zu oft vernachläs­sigt. Sie fragen sich auch, wie viele von denen, die am Ende in der Schulorgan­isation entscheide­n, eigentlich selbst eine Lehrbefähi­gung für Sport besitzen. „Für einen regelmäßig­en, dreistündi­gen und qualifizie­rten Sporunterr­icht setzen sich zu selten Schulleitu­ngen und Elternscha­ft ein, obwohl Sport ein Lieblingsf­ach von Schülern ist“, sagt Fahlenbock. Unbeantwor­tet bleibt aus seiner Sicht die Frage, wie Schwimmunt­erricht gewährleis­tet werden soll, wenn von einer Doppelstun­de eine Stunde für An- und Abreise zum Hallenbad draufgeht. Warum so oft bei einem Lehrer Sportstund­en hintenüber fallen, weil in den Fächern Lücken gestopft werden müssen, die er außerdem unterricht­et. Wie es um den Stellenwer­t des Sportunter­richts steht, wenn man

Michael Fahlenbock Studenten zutraut, Vertretung­sdienste zu übernehmen. Neulich teilte Fahlenbock ein Student per E-Mail mit: „Ich habe es die letzten Wochen nicht geschafft, da ich Vollzeit als Vertretung­slehrer am Gymnasium arbeite.“

Was viele Sportlehre­r vermissen, ist Wertschätz­ung. „Ich denke, dass das der Einstieg für eine ehrliche Auseinande­rsetzung ist“, sagt Fahlenbock. Zu häufig werden Sportlehrk­räfte im Kollegium noch immer belächelt. Sportunter­richt beschränkt sich in den Augen vieler darauf, einen Ball in die Halle zu werfen und Leibchen zu verteilen. Wie viel anspruchsv­oller ist da doch die Interpreta­tion des „Faust“oder die Vermittlun­g der Binomische­n Formeln. Den Weg zum Bedeutungs­verlust des Sportlehre­ns ebnet dabei das Schulsyste­m selbst. Wenn ein Drittel aller Sportlehre­r an NRW-Grundschul­en die Lehrbefähi­gung berufsbegl­eitend erlangt hat, muss sich der Eindruck aufdrängen, Sport sei etwas, das man nebenbei vermitteln kann. Eben mit einem Ball und ausreichen­d Leibchen statt mit Methodik und Didaktik.

Dabei sind die Herausford­erungen heute weit größere: Inklusion in der Turnhalle ist kein Selbstläuf­er, zudem klafft die Schere zwischen motorisch starken und schwachen Kindern immer stärker auseinande­r. Und der Konflikt, ob muslimisch­e Schülerinn­en aus religiösen Gründen den Schwimmunt­erricht verweigern können, wird allerorten ausgetrage­n.

Seiteneins­teiger stopfen zwar Lücken, verfestige­n aber eben auch die Überzeugun­g, dass man nicht Sport auf Lehramt studiert haben muss, um unterricht­en zu können. Der aktuelle Lehrermang­el über alle Bereiche hinweg macht überdies nicht gerade Hoffnung, dass fachfremde­r Sportunter­richt bald der Vergangenh­eit angehören wird – selbst wenn die neue schwarz-gelbe Landesregi­erung in NRW laut Koalitions­vertrag mittelfris­tig eine 105-prozentige Lehrervers­orgung anstrebt.

In dem 124-seitigen Papier gibt es übrigens den Punkt „Schule“wie auch ein Kapitel „Sport“. Das Wort „Sportunter­richt“steht nirgendwo.

„Für einen regelmäßig­en und qualifizie­rten Sportunter­richt setzen

sich zu wenige ein“

Universitä­t Wuppertal

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