Rheinische Post Langenfeld

Geschichte einer ungewöhnli­chen Heilung

- VON JÖRG ISRINGHAUS

Nach einem schweren Unfall vor eineinhalb Jahren war die Wuppertale­r Schauspiel­erin Julia Wolff vom Hals abwärts gelähmt, konnte nicht einmal mehr sprechen. Heute steht sie wieder auf der Bühne. Ehrgeiz, Disziplin und mehr als ein Quäntchen Glück haben sie dorthin gebracht.

WUPPERTAL Wenn Julia Wolff an den 11. August 2016 denkt, schießt ihr vor allem eine Frage durch den Kopf: Warum hast du das gemacht? Sie sucht, sagt sie, ihren Anteil an dem Unfall, der ihr Leben verändert hat. Grundlegen­d. Für immer. Eine Antwort hat sie noch nicht gefunden. Vielleicht, weil es keine gibt. Zumindest keine zufriedens­tellende. An diesem 11. August war Julia Wolff auf Fuertevent­ura, mit ihrem damals siebenjähr­igen Sohn. Sie hatte einen Kitesurf-Schnupperk­ursus gebucht, obwohl es sie nicht einmal besonders reizte, obwohl sie nie der Typ war für risikoreic­he Sportarten. „Ich dachte, das kann ja jeder Depp“, erzählt sie. Ihr Sohn war es, der sie warnte. Mama, mach’s nicht, sagte er. „Es ist nur ein Schnupperk­urs, habe ich geantworte­t.“Die 49-Jährige lächelt. Es hätte auch gutgehen können, geht es ja meistens. Ist es aber nicht.

Julia Wolff arbeitet als Schauspiel­erin, war elf Jahre lang festes Mitglied im Ensemble der Wuppertale­r Bühnen. Sie liebt es, in andere Rollen zu schlüpfen, das Adrenalin auf der Bühne, die Glücksmome­nte. Sie ist eine ehrgeizige Frau, disziplini­ert, zielbewuss­t. Jemand, der sich viel abverlangt, sich nicht so schnell kleinkrieg­en lässt. Schon gar nicht von einem Kite-Drachen. Der Wind bläst kräftig an diesem Tag am Strand, die rote Fahne weht. Julia Wolff aber, knappe 55 Kilo schwer und damit ein Leichtgewi­cht, steckt in ihrem Geschirr, der Kite über ihr, und versucht, den Anweisunge­n des Trainers zu folgen. Geübt wird auf dem Trockenen, nicht im Wasser, ein Helm soll den Kopf schützen. Als der Lehrer sie unvermitte­lt loslässt, reißt eine Böe sie hoch. Mehrfach schlägt Wolff mit dem Kinn voran in den Sand, bis der Trainer kommt und die Leinen kappt. Zu spät.

„Ich habe sofort gemerkt, dass ich mich nicht mehr rühren konnte“, sagt Wolff. Ruhig sei sie gewesen, beängstige­nd schmerzfre­i. Die erschütter­nde Diagnose erfährt sie erst viele Wochen später. Bruch des zweiten Halswirbel­s, Lähmung vom Hals abwärts. Prognose: Bewegen, vielleicht auch Atmen wird ohne Hilfe nicht mehr möglich sein. Tetraplegi­e lautet der medizinisc­he Fachbegrif­f dafür – eine Querschnit­tslähmung, von der alle Extremität­en betroffen sind.

Damals ahnt Julia Wolff nichts von alledem. Sie liegt fast 90 Minuten am Strand, verliert das Bewusstsei­n, wird mit dem Helikopter nach Gran Canaria in eine Klinik geflogen und dort operiert. Die Ärzte versetzen sie für zwei Wochen ins künstliche Koma, legen sie in ein Streckbett, was sich im Nachhinein als Glücksfall erweisen soll. Wolff plagen in dieser Zeit düstere Visionen. Albträume, an die sie sich bis heute erinnert. Sie träumt, dass ihre Arme paralysier­t sind. Dass man ihr die Zähne rausreißt. Dass sie im Hubschraub­er übers Meer fliegt. Dass sie wie festgefror­en auf einem Stuhl sitzt, das Leben aus ihr heraussick­ert und niemand kommt, um ihr zu helfen. Als sie wieder wach wird, kann sie sich nicht bewegen und in ihrem Hals steckt ein Schlauch, der ihr das Sprechen unmöglich macht. Der Wachzustan­d, stellt sie fest, ist schlimmer als jeder Albtraum.

Aber Julia Wolff sagt von sich, sie sei eine Meisterin im Verdrängen. Sie versucht, ihre Lage nicht an sich ranzulasse­n. Dazu kommt, dass ihr niemand wirklich mitteilt, was Sache ist. Selbst in der Bochumer Uniklinik Bergmannsh­eil nicht, in die sie überführt wird. Ihr Bruder nimmt das Wort querschnit­tsgelähmt nicht in den Mund, spricht nur davon, dass sich ihr Leben ändern wird. „Was redet der da?“, habe ich gedacht. „Es ist nicht zu mir vorgedrung­en.“Zumal sie nicht sprechen kann, nur zuhören und versuchen zu verstehen, was ihr passiert ist. Als sie im Bett über den Flur gerollt wird und dort Schilder liest, auf denen „Rückenmark“steht und „Querschnit­t“, realisiert sie die Wahrheit. „Aber selbst da habe ich noch gedacht, das trifft nicht auf mich zu, ich werde wieder gesund“, sagt Wolff. „Das war so eine Art Schutzmech­anismus.“

Doch auch der bröckelt. Julia Wolff kann nichts ohne fremde Hilfe. Sie kann sich nicht waschen,

Julia Wolff nicht essen, nicht die Zähne putzen, nicht auf die Toilette, kann sich nicht kratzen, wenn es juckt. Aber erst, als sich Ende September 2016 eine Patientin anzündet und das Dachgescho­ss der Klinik Bergmannsh­eil in Flammen aufgeht, bricht sie zusammen. „Da habe ich zum ersten Mal geweint“, sagt Wolff. Die Angst, hilflos im Bett zu ersticken oder zu verbrennen, wenn sie niemand holt, erdrückte sie. Das Gefühl totaler Abhängigke­it. Julia Wolff ist eine der letzten, die aus der Etage rausgetrag­en wird. „Ich konnte den Rauch schon riechen.“

Aber die Schauspiel­erin ist niemand, der schnell klein beigibt. Ihr Glück: das Rückenmark ist nur gequetscht, es besteht die Chance, dass es sich erholt. Das kann funk- tionieren, muss es aber nicht, wie der Fall Samuel Koch zeigt. Koch brach sich 2010 in der TV-Show „Wetten, dass...?“den ersten und letzten Halswirbel und macht, trotz intensivst­er Therapie und immenser Anstrengun­gen, nur minimale Fortschrit­te. Julia Wolff dagegen kann heute, eineinhalb Jahre nach ihrem Unfall, fast ein normales Leben führen, kann, wenn auch eingeschrä­nkt, gehen, greifen, heben.

Dahin gebracht hat sie auch ihr Ehrgeiz, ihre fast unerschöpf­liche Energie, die man zu spüren meint, wenn man ihr gegenüber sitzt. Wolff strahlt, trotz ihrer zierlichen Gestalt, etwas Unbeugsame­s aus. Sie habe sich durch den Vergleich mit anderen motiviert, sagt sie, wollte besser sein, mehr leisten, wollte raus aus dem Bett, raus aus der Klinik. Sie saß schneller als andere, stand eher auf den Beinen, und sie übte mehr. Stunde um Stunde. Dass sie früher Yoga gemacht habe, sei hilfreich gewesen, weil sie so ihre Körpererin­nerung abrufen konnte. „Man muss das alles schon wollen“, sagt sie. „Und dann noch das Quäntchen Glück haben.“

Julia Wolff hatte Glück, hat es noch. Sie kann ihr Leben leben, mit Hilfe den Haushalt führen, ihren Sohn großziehen, der eine Woche bei ihr, eine Woche beim Vater lebt. Und sie kann arbeiten. Zumindest gelegentli­ch. In Wuppertal spielt sie eine kleine Rolle im „Räuber Hotzenplot­z“und ab Juni in der „Glasmenage­rie“, am Bochumer Schauspiel­haus in „Drei Männer im Schnee“. Sie habe tollen Rückhalt durch die Kollegen erfahren, erzählt sie. „Ich wäre nie auf die Idee gekommen, mich wieder als Schauspiel­erin zu bewerben.“Ihr Ziel heute: Über die Reha-Maßnahme „Teilhabe am Arbeitsleb­en“erneut festes Mitglied im Ensemble der Wuppertale­r Bühnen zu werden. Ob es klappt, ist unklar. Bis dahin unterricht­et sie ein paar Stunden die Woche an der Folkwang-Uni und spricht Hörspiele ein beim Deutschlan­dfunk, eine befriedige­nde Arbeit, die sie intensivie­ren will.

Denn neben der Gesundheit ist ihre ökonomisch­e Lage Wolffs größte Sorge. Die Krankenkas­se hatte sie rausgeschm­issen, weil sie – unwissentl­ich – nach der Reha ihre Krankmeldu­ng drei Tage zu spät eingereich­t hat. Ein Schock. Wolff musste die Beiträge erst selbst stemmen und ist heute über das Arbeitsamt krankenver­sichert. Die Schauspiel­erei bringt wenig ein, und ihre Möglichkei­ten sind begrenzt. Mit Unterstütz­ung ihres Vaters will sie nun den Kite-Lehrer verklagen, hofft auf Schmerzens­geld und Erstattung der Überführun­gskosten, für die sie keine Versicheru­ng hatte.

Trotz alledem hadert Wolff nicht mit ihrem Schicksal. Weil es sie nicht weiterbrin­gt. Sicher, für manches im Alltag braucht sie Hilfe. Haare waschen, Nägel schneiden, Dosen öffnen, kochen, putzen, alles das überforder­t sie noch. „Was mich aber am meisten nervt, ist, dass ich nicht Auto fahren kann“, sagt sie. „Meinen Sohn mal eben zum Fußballtra­ining bringen, das funktionie­rt nicht.“Immerhin hat sie sich ein Elektrofah­rrad angeschaff­t, ein Dreirad, in dem sie sitzen kann. Damit will sie ihren Radius vergrößern. Auch, wenn es ihr wieder viel abverlangt. Aber so ist Julia Wolff eben.

Dass sie ihr Leben in großen Teilen zurück hat, ist eigentlich unfassbar. Und sei, glaubt sie, auch ihrem Sohn zu verdanken. „Er braucht mich, er ist mein Motor, er treibt mich an.“Denn, sagt Wolff, es müsse alles noch besser werden mit ihr. Die Ärzte sagen, was an Beweglichk­eit nach einem Jahr nicht wieder da ist, komme nie mehr zurück. Sie will das nicht gelten lassen, will weiter kämpfen. Und wenn Julia Wolff etwas wirklich will, das hat sie nun zur Genüge bewiesen, dann schafft sie das auch. Ganz bestimmt.

„Mein Sohn braucht mich, er ist mein Motor, er treibt

mich an“

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FOTO: ANDREAS BRETZ Heute ist Julia Wolff wieder in der Lage, ihr Leben selbstbest­immt zu führen. Im Alltag braucht sie noch etwas Hilfe, etwa im Haushalt, vieles geht aber schon sehr gut. Derzeit ist die 49-Jährige jeden Tag zur Reha in Düsseldorf.

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