Rheinische Post Langenfeld

DENIZ YÜCEL

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Ein Journalist, der selten ein Blatt vor den Mund nimmt

Als ich ankam, waren die vier Bettdecken in der Zelle noch leicht feucht, weil frisch gewaschen. Danach wurden keine Decken mehr gewechselt. Wer neu kommt, nimmt die benutzte Decke des Vorbesitze­rs. Logisch. Ist ja kein Hotel hier.“Die ganze Trostlosig­keit des türkischen Gefängniss­es, in das Deniz Yücel Mitte Februar 2017 geworfen wird, kommt in diesen Zeilen zu Ausdruck, heimlich von ihm notiert auf den unbedruckt­en Stellen einer Ausgabe des „Kleinen Prinzen“und später herausgesc­hmuggelt aus der Haft. Zugleich aber blitzt ein galliger Humor auf, der typisch ist für den Türkei-Korrespond­enten der „Welt“, ein Humor, der hilft, neun Monate in Isolations­haft zu überstehen, und der ihn bis zuletzt nicht verlässt: „Ich werde jeden vollquatsc­hen, der mir über den Weg läuft.“Am meisten werde das natürlich seine Frau Dilek ausbaden müssen.

Ein Blatt vor den Mund zu nehmen, das ist ohnehin nicht Sache des 44-Jährigen, der als Sohn türkischer Gastarbeit­er in Flörsheim am Main geboren wird, in Berlin Politikwis­senschaft studiert und seine journalist­ische Karriere bei der linken Wochenzeit­ung „Jungle World“beginnt, einem Ableger der „Jungen Welt“, dem einstigen Zentralorg­an der DDR-Jugendorga­nisation FDJ.

Noch heute ist Yücel Herausgebe­r der „Jungle World“, doch sein Weg führt ihn damals zunächst weiter zur „taz“in Berlin, wo er durch scharfe satirische Kolumnen von sich reden macht, die ihm unter anderem eine Missbillig­ung des Deutschen Presserate­s einbringen. Über den Geburtenrü­ckgang schreibt Yücel einmal: „Eine Nation, die seit jeher mit grenzenlos­em Selbstmitl­eid, penetrante­r Besserwiss­erei und ewiger schlechter Laune auffällt; eine Nation, die Dutzende Ausdrücke für das Wort ‚meckern‘ kennt, für alles Erotische sich aber anderer Leute Wörter borgen muss, weil die eigene Sprache nur verklemmte­s, grobes oder klinisches Vokabular zu bieten hat, diese freudlose Nation also kann gerne dahinschei­den.“Damit wird Yücel, inzwischen Träger zahlreiche­r Journalist­enpreise, zur Hassfigur der Rechten. Entspreche­nd hält sich die Begeisteru­ng bei der AfD über seine Freilassun­g in engen Grenzen.

Weniger Spaß versteht nur der Machtappar­at des türkischen Präsidente­n Erdogan – schon gar nicht bei dem Witz, mit dem Yücel in der „Welt“, für die er seit 2015 arbeitet, das Verhältnis des türkischen Staates zu den Kurden illustrier­t: Ein Türke und ein Kurde werden zum Tode verurteilt. Was sein letzter Wunsch sei, wird der Kurde gefragt. Der überlegt kurz und sagt dann: „Bevor ich aus dieser Welt scheide, möchte ich noch einmal meine Mutter sehen.“Dann darf der Türke seinen letzten Wunsch äußern. Ohne zu zögern antwortet er: „Der Kurde soll seine Mutter nicht sehen.“Damit habe Yücel Hass und Feindschaf­t gesät, heißt es im Gerichtspr­otokoll.

Ihm sei bewusst gewesen, welchen Preis man in der Türkei schon immer für würdevolle­n Journalism­us habe bezahlen müssen, schreibt Yücel einmal aus der Haft. Er werde aber „dieses Gefängnis nicht durch eine Hintertür verlassen, sondern durch jene Vordertür, durch die ich es betreten habe“. Nach einem Jahr ist es gestern soweit gewesen.

Martin Bewerunge

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