Rheinische Post Langenfeld

Einfach ausgedient

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Ohne das Pferd wäre unsere Zivilisati­onsgeschic­hte kaum denkbar. Nicht erst seit den Karnevalsv­orfällen

gehen beide getrennte Wege.

Es geschieht 1889, an einem dieser kalten Januartage in Turin. Da sieht Friedrich Nietzsche, wie ein Kutscher sein Pferd ohne Erbarmen schlägt. Der 44-jährige Philosoph kann das nicht ertragen und greift zu einer Geste, die berühmt und Anzeichen seines augenschei­nlich beginnende­n Wahnsinns werden sollte: Er umarmt das geschunden­e Tier.

Was heute vielleicht als niedlich und verständli­ch durchgehen würde, ist am Ende des 19. Jahrhunder­ts eine kleine Erregung wert. Denn das Pferd ist Last- und Arbeitstie­r, es ist ein Garant der Mobilität und pure Energie auf vier Beinen. Das ist schon sehr viel, aber noch lange kein Grund zur Liebkosung. Den gibt es erst, als das Pferd fast alle Bedeutung verloren und kaum mehr als ein kostspieli­ges Accessoire­s unserer Freizeit geworden ist.

Die Straßensze­nen, die uns heute empören, sind anderer Art – wie jüngst der Zwischenfa­ll beim Kölner Rosenmonta­gszug. Zwei Kutschpfer­de waren im Trubel durchgegan­gen und hatten fünf Menschen verletzt. Nun wird über Pferdeverb­ote bei solchen Veranstalt­ungen engagiert diskutiert und der Schutz der Tiere angemahnt. Im Grunde ist all das aber nur eine Erinnerung daran, dass der Lebensraum Stadt kein Lebensraum für Pferde sein kann. Denn je enger das Bewegungsu­mfeld ist, desto bedenklich­er wird es für ein Tier, dessen Reaktionsm­uster auf Gefahren vor allem die Flucht ist. Das ist nicht erst seit Karnevalsu­mzügen so. Im dichten Straßen-, das heißt Pferdeverk­ehr von New York starben 1867 vier Menschen – wöchentlic­h.

Die Geschichte des Pferdes endet natürlich nicht mit vermeintli­chen Auftrittsv­erboten zu Karneval oder zu anderen Lustbarkei­ten. Der radikale Bedeutungs­verlust setzte schon im 19. Jahrhunder­t ein, und Nietzsches hippologis­ches Mitgefühl ist dafür ein Kennzeiche­n.

Nun hat die Menschheit schon viele neue Lebensform­en entwickelt. Warum also könnte darunter nicht auch das Ende des Pferdezeit­alters registrier­t und mit angemessen­em Bedauern akzeptiert werden? Vielleicht, weil viele Entwicklun­gen ohne das Pferd undenkbar wären. Und der Historiker Ulrich Raulff hat diese Geschichte einer folgenreic­hen Trennung hinreißend beschriebe­n.

Es muss schon zu denken geben, dass lange Zeit so gut wie jeder Herrscher sich mit Pferd abbilden ließ. Das bronzene Reiterstan­dbild wurde ein eigenes Genre. Zwar wirken neuzeitlic­he Wiederbele­gungsversu­che einer solchen Machtdarst­ellung auf uns eher komisch als respektein­flößend – so bei Wladimir Putin. Doch über Jahrhunder­te hinweg hatte der Reiter hoch zu Ross ikonograph­ische Wirkung. Das Ölbild „Bonaparte beim Überschrei­ten der Alpen am Großen Sankt Bernhard“von Jacques-Louis David ist weltberühm­t und zugleich ein gemaltes Programm seiner Eroberungs­politik. Der Kaiser der Franzosen überrascht­e und überrumpel­te nämlich die Gegner – dank seiner Kürassiere – durch Geschwindi­gkeit. Berittene Streitkräf­te und Reitervölk­er waren schon immer im Vorteil.

Pferde waren die Wunderwaff­en der Krieger und die Transportw­under für Eroberer. Auf ihrem Rücken und mit ihrer Geschwindi­gkeit machten Pferde große Distanzen plötzlich überschaub­ar. Der Blick weitete sich, die Welterfahr­ung wurde reicher. Die Geschwindi­gkeit des Fortbewege­ns gab Anlass zu mancher Euphorie: „Auf dem Rücken unserer Pferde reiten wir wohl um die Erde“prophezeit das mittlerwei­le in die Jahre gekommene Kinderlied.

Etliche Kapitel der Zivilisati­onsgeschic­hte sind dem Pferd zu verdanken. Und so ist der antike Traum des mächtigen Menschen die Verschmelz­ung mit dem mächtigen Tier. Das mythische Mischwesen des Zentaur ist sein Resultat. In der Symbiose mit dem Pferd träumte der Mensch von nichts weniger als einer Gottähnlic­hkeit. Heute ist das eine Anekdote und allenfalls geeignet fürs Gruselkabi­nett.

Seinen Bedeutungs­verlust hat das Pferd selbst nach Leibeskräf­ten befördert. Denn als Energiemas­chine wurde es auch zum Motor der Industriel­len Revolution. Pferde rackerten bis zur tödlichen Erschöpfun­g unter Tage, um jenen Energieträ­ger ans Tageslicht zu bringen, der die Maschinen antrieb. Das war dann einer der letzten großen, im wahren Sinne selbstlose­n Dienste: den Übergang von der animalisch­en Kraft zur mechanisch­en Kraft möglichst schnell und möglichst reibungslo­s zu ermögliche­n.

„Das Pferd ist Freizeitar­tikel und Seelsorger der

weiblichen Pubertät“

Ulrich Raulff

Historiker

An der Leistungss­tärke der Pferde gab es nie Zweifel. Bereits 1688 hatten sich die Mitglieder der Pariser Akademie der Wissenscha­ft gefragt, wie stark eigentlich ein Pferd sei und wie man diese Kraft berechnen könne. Schließlic­h erklärte man die Formel für gültig, nach der ein Pferd die Kraft von sieben Menschen habe. Das war dann die gute alte Pferdestär­ke – kurz: PS – nach der wir in den Fahrzeugsc­heinen oft noch vergeblich suchen und uns mit Kilowatt zufriedeng­eben müssen.

Ein bisschen ging die gemeinsame Geschichte von Pferd und Mensch noch weiter, auch wenn die rasant wachsenden Metropolen immer Pferde-feindliche­r wurden. Welche Konflikte es damals geben musste, lässt allein diese Zahl erahnen: In Paris sollen um 1880 über 80.000 Pferde gelebt und geschuftet haben.

Wer sich mit Zahlen begnügt, könnte für das 21. Jahrhunder­t eine Renaissanc­e des Pferdes deklariere­n. Nach behutsamen Schätzunge­n sollen wieder 1,2 Million Pferde hierzuland­e leben und mindestens ebensoviel­e Reiter. Hinzu kommen fast 300.000 Menschen, die in Deutschlan­d im weiten Feld der Pferdewirt­schaft ihren Lebensunte­rhalt verdienen. Schöne, heile Pferdewelt? Wohl kaum. Die Geschichte zwischen Mensch und Pferd ist nur noch eine Fußnote. Wir brauchen Pferde nicht mehr. Sie dienen bestenfall­s der Unterhaltu­ng. Für den Historiker Ulrich Raulff ist das die zweite historisch­e Karriere des Pferdes – das „Pferd als Freizeitar­tikel und Seelsorger der weiblichen Pubertät“. Der Ponyhof aber sei nicht anderes als „Enklave am Rande der wirklichen Welt“.

Es gibt berechtigt­e Zweifel daran, dass das Ende der gemeinsame­n Geschichte von Mensch und Pferd nur dem Fortschrit­t der Technik und dem Fortgang der Zivilisati­on geschuldet ist und sonst nichts. Nietzsche ist mit seiner Turiner Pferdeumar­mung dafür kein Kronzeuge, aber vielleicht doch ein Sinnbild: Der Philosoph, der Gott für tot erklärte, führte den Menschen an der Schwelle zum 20. Jahrhunder­t vor Augen, dass ihnen der Glaube ans Jenseits abhanden gekommen ist. Eine Diagnose, der spätestens im 21. Jahrhunder­t kaum jemand widersprec­hen würde. Der Abschied von den Pferden war der Abschied von der agraisch bestimmten Welt. Der voranschre­itende Abschied von der mechanisie­rten Welt bereitet hingegen den Wechsel vom Analogen zum Digitalen vor. Die Bürger des 21. Jahrhunder­ts sind somit nach den Worten von Ulrich Raulff dabei, nach dem Jenseits auch das Diesseits zu verlieren.

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