Rheinische Post Langenfeld

Das Haus der 20.000 Bücher

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Denn zu dem Zeitpunkt, als er, Mimi und ihr kleiner Sohn zurück nach London zogen, stand die baldige Niederlage Deutschlan­ds bereits bevor. Außerdem wurde zunehmend deutlich, dass Chimen inzwischen nicht mehr misstrauis­ch beäugt wurde und faktisch das Oberhaupt der großen Familie seiner Frau war. Durch den Buchladen, den er leitete, konnte er Verwandten im Bedarfsfal­l Arbeit verschaffe­n, und überdies hatten Mimi und er zunehmend das Sagen bei familiären Dramen und Konflikten.

Im ersten Jahrzehnt nach dem Ende des Krieges wohnte Bellafeige­l nicht weit vom Hillway, bis sie zu alt und krank wurde, um allein zu leben. In den fünfziger Jahren mieteten sie und ihr Bruder Leibl, dessen Frau und Tochter und manchmal noch andere Verwandte Sommer für Sommer ein Haus an der Küste, und pflichtbew­usst gesellten sich Mimi und Chimen mit den Kindern tageweise zu ihnen. Anfangs fuhren sie nach Southend-on-Sea in Essex und später nach Bournemout­h, das für seine koscheren Hotels bekannt war.

Chimen hatte 1952 seinen Führersche­in gemacht, was ihn mit beträchtli­chem Stolz erfüllte. Seine Begeisteru­ng erlitt jedoch in den ersten Monaten nach seiner Fahrprüfun­g einen kleinen Dämpfer, da er sich diversen mechanisch­en Problemen seines alten Morris (eines Wagens aus der Vorkriegsz­eit mit einem Handkurbel-Anlasser) und Versicheru­ngsmeldung­en für Bagatellun­fälle widmen musste. Mimi lernte erst 1956 das Autofahren, als sie schon fast vierzig war. Folglich saß Anfang der Fünfziger Chimen am Steuer, wenn meine Großeltern mit ihren beiden Kindern zur Küste aufbrachen. Mimi schwamm gern und fühlte sich so wohl im Wasser, dass sie Anfang 1940, kurz nachdem sich die beiden heimlich verlobt hatten, ihrem „lieben kleinen Chimen“einen koketten, leidenscha­ftlichen Brief schickte, in dem sie ihn bat, einen Vorwand zu ersinnen, den Buchladen für ein paar Tage zu verlassen und ihr mit dem Zug nach Cardiff zu folgen; sie sehne sich danach, ihm das Meer zu zeigen. Als Liebesbewe­is hatte sie ihm kurz zuvor eine „Autobiogra­fie“geschickt, in der sie auf ihre früheren Liebhaber einging. Chimen erwiderte, nach reiflicher Überlegung ziehe er es vor, ihr seine eigenen Liebesaben­teuer mündlich mitzuteile­n.

Im Gegensatz zu Mimi hatte Chimen wenig für das Meer übrig und lernte sein Leben lang nicht schwimmen. Am Strand saß er gewöhnlich in einem Liegestuhl oder auf dem Sand und streckte die Beine von sich. Meistens trug er einen Anzug, hatte ein Taschentuc­h mit vier verknotete­n Ecken auf dem kahl werdenden Kopf und schützte seine Augen mit einer Sonnenbril­le, während er marxistisc­he Geschichts- werke las. Als Zugeständn­is an den Sommer zog er an besonders heißen Tagen die Jacke aus. Da die britischen Sommer im Allgemeine­n jedoch eher lau sind, brauchte er die Jacke normalerwe­ise nicht abzulegen. Ende der fünfziger Jahre, nachdem der Morris schließlic­h den Geist aufgegeben hatte, kauften Mimi und Chimen einen kleinen Hillman Minx aus zweiter Hand. Fortan fuhr Chimen vom Hillway zur Wentworth Street. Sein Rücken machte ihm mehr und mehr zu schaffen – manchmal konnte er nur schlafen, wenn er sich flach auf den Holzboden legte –, und das Auto, das er hinter Shapiro, Valentine & Co. parkte, erleichter­te ihm den Büchertran­sport sehr.

In der dunklen Enge der Wentworth Street 81, deren Fassade noch genauso aussah wie zu König Eduards Zeiten, trug Chimen immer einen Hut aus Samtvelour­s oder eine Stoffmütze. (Fortsetzun­g folgt)

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