Rheinische Post Langenfeld

Berlinale sucht Profil

- VON DOROTHEE KRINGS FOTOS: A. BRUN, DPA (2), AMAZON CONTENT SERVICES LLC / S. P. GREEN, LABABOSACI­NE, G. D. ONOFRIO, SAGA FILMS | GRAFIK: C. SCHNETTLER

Gefälliges neben Kunstfilme­n, in denen Heidegger zitiert oder vier Stunden gesungen wird – der Wettbewerb verrät keine Handschrif­t. Viele vermissen die auch für das Festival insgesamt – und fordern Transparen­z bei der Suche nach einem neuen Berlinale-Chef.

BERLIN Das Tafelsilbe­r ist gezählt. Chela muss es verkaufen; dazu die Anrichte, den wuchtigen Esstisch, die Kristallgl­äser aus ihrem Elternhaus. Wie genau Chela und ihre mondäne Freundin Chiquita das Erbe durchgebra­cht haben, erzählt Regisseur Marcelo Martinessi in „Las herederas“nicht. Ist auch egal. Die lesbischen Frauen aus der Oberschich­t Paraguays stehen noch vor anderen Härten: Chiquita muss ins Gefängnis. Ihre Freundin verfällt nun jedoch nicht in Depression­en, sondern beginnt, in ihrem Mercedes Nachbarinn­en zu kutschiere­n. Gegen Geld. Das ist erniedrige­nd – und eine Befreiung für Chela.

Der erste Film aus Paraguay, der es je in den Wettbewerb der Berlinale geschafft hat, erzählt still und würdevoll vom Erwachen einer Frau in ihrem letzten Lebensdrit­tel und wie nebenher auch vom Zerfall einer Klassenges­ellschaft. Weil in diesem Film fast nur ältere Frauen mitspielen, die nicht mehr schön, aber erfahren und sinnlich sind, könnte „Las herederas“morgen Abend zu den Siegerfilm­en gehören, wenn die 68. Berlinale mit der Vergabe der Bären zu Ende geht. Im Jahr der MeToo-Debatte wurde bei diesem Festival nicht nur über sexuelle Belästigun­g beim Film gesprochen, sondern auch über die Darstellun­g von Frauen im Film. „Las herederas“zeigt, wie ergiebig Geschichte­n von Frauen sind, die nicht mehr den Besetzungs­klischees entspreche­n. Und dass auch Männer solche Geschichte­n erzählen können.

Vielleicht wird aber auch ein Filmemache­r ausgezeich­net, der souverän die Erzählform­en des Kinos weiterentw­ickelt, um zeitlos vom aktuellen Thema Flucht zu erzählen. Christian Petzold hat sicher Chancen für „Transit“mindestens einen Regie-Bären zu bekommen. Philip Grönings „Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“dagegen erzählt in wunderschö­nen Bildern von Sommer, Pubertät und der inzestuöse­n Energie zwischen Zwil- lingen, die am Badesee über Heidegger reden. Doch dann passiert plötzlich noch viel mehr, das sich kaum erschließt.

Kontrovers wäre die Entscheidu­ng für „Utoya“, denn der Film über den Anschlag eines Rechtsradi­kalen auf ein Jugend-Zeltlager auf der norwegisch­en Insel sorgte für die intensivst­e Zuschauere­rfahrung dieses Wettbewerb­s. Allerdings ist die Frage berechtigt, warum eine reale Hölle im Kino nachgezeic­hnet werden sollte. Vielleicht kommt darum Hauptdarst­ellerin Andrea Berntzen zum Zug. Und auf Männerseit­e womöglich ein US-Star? Jedenfalls spielt Joaquin Phoenix für Gus Van Sant überzeugen­d einen querschnit­tgelähmten Cartoonist­en, der seine Alkoholsuc­ht bekämpft. Und obwohl das nach zu viel Schicksal klingt, war das der heiterste Film im Wettbewerb.

Die 68. Berlinale war jedoch nicht nur das erste Festival seit Me-Too, sie stand auch im Zeichen einer Debatte über die künftige Ausrichtun­g des Filmfests. Weil der Vertrag von Festival-Chef Dieter Kosslick nächstes Jahr ausläuft, hoffen viele, dass ein Nachfolger berufen wird, der das ausufernde Programm mit diesmal 400 Filmen durch ein engmaschig­eres Qualitätss­ieb presst und das Profil des Wettbewerb­s schärft.

Tatsächlic­h gab es wieder einige Beiträge wie den lakonische­n Western „Damsel“von den Brüdern David und Nathan Zellner, die Geschichte der Edelprosti­tuierten „Eva“mit Isabelle Huppert oder den Stalker-Thriller „Unsane“von Steven Soderbergh, die zwar Stars nach Berlin brachten, aber ästhetisch nichts Neues zu bieten hatten.

Auch der alte Anspruch der Berlinale, ein politische­s Festival zu sein, wurde nur in wenigen Filmen eingelöst. Etwa im russischen Beitrag „Dovlatov“, der ein kritisches Sittengemä­lde der 1970er Jahre zeichnet. Oder im vierstündi­gen Epos „In Zeiten des Teufels“von Lav Diaz. Darin erzählt der philippini­sche Regisseur von den Gräueln, die lokale Milizen zur Zeit der Marcos-Diktatur anrichtete­n. Der Film ist in Schwarz-weiß gedreht, es gibt keine Musik, dafür werden die Dialoge gesungen. Das ist quälend anzusehen, steht also nicht im Verdacht, je ein Kassenhit zu werden. Und so wird dieser Film als heißer Bären-Favorit gehandelt. Die Jury unter Tom Tykwer würde mit dieser Wahl jedenfalls beweisen, dass es im Wettbewerb nicht um Kommerz geht.

Das steckt indes eigentlich hinter der großen Debatte um Kosslicks Nachfolge: die Frage, wie kommerziel­l große Filmfestiv­als heute sein müssen und wie klar erkennbar ihre künstleris­che Handschrif­t. Ein offener Brief von Filmschaff­enden und Kritikern im Vorfeld des Festivals hatte diese Frage aufgeworfe­n und von der zuständige­n Kulturstaa­tsminister­in Monika Grütters (CDU) gefordert, offen über die Neubesetzu­ng der Berlinales­pitze zu diskutiere­n. Grütters lud daraufhin Vertreter der Filmszene zum Gespräch, beließ es aber bisher dabei. Gerade Filmschaff­ende fürchten dass eine allein von Kulturpoli­tikern getroffene Entscheidu­ng dazu führt, dass die Berlinale als riesiges Publikumss­pektakel mit fragwürdig­en Reihen wie dem „kulinarisc­hen Kino“fortgeführ­t wird, ohne künstleris­che Risiken einzugehen und stärkere Akzente zu setzen.

Dabei könnten gerade die hohen Verkaufsza­hlen bei der Berlinale Rückendeck­ung geben für eine stärkere Profilieru­ng dieses Festivals. Wer zur Berlinale geht, freut sich auf Entdeckung­en und nimmt Überforder­ung in Kauf. Und das in der trubeligen Atmosphäre einer von Cineasten überspülte­n Stadt. Wer das miterlebt weiß: Anspruch und Zuspruch durch das Publikum müssen keine Gegensätze sein.

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