Rheinische Post Langenfeld

WOCHENENDE 24./25. FEBRUAR 2018

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so um, wie man mit Selbstvers­tändlichke­iten halt sehr oft umzugehen pflegt: ein bisschen zu fahrig und zu lässig, zu gleichgült­ig auch und vor allem zu desinformi­ert. Unser mangelndes Interesse glaubten wir dann damit zu legimitier­en, indem wir uns über irgendwelc­he Verordnung­en mokierten und lustig Entwicklun­gen, Erfahrunge­n und Visionen. Es gibt Irrwege, die zu lange beschritte­n, und Wegweiser, die zu oft missachtet wurden.

In unserer neue Serie wollen wir uns ein paar dieser Wege widmen und sie mit Denkern verbinden. Was hat sie angetriebe­n, was haben sie bewirkt, was ist von ihren Ideen noch spürbar? Unsere Auswahl ist wie jede Auswahl – vor allem ungerecht. Wir trösten uns damit, kein Gesamtbild abliefern zu können, aber doch wenigstens wichtige Mosaikstei­ne beleuchten zu wollen. Dabei gab es „Kandidaten“, die unzweifelh­aft waren wie Alexander von Humboldt und auch Napoleon, oder überrasche­nde wie Marx und Wagner; aber auch ausgiebig diskutiert­e wie Helmut Kohl. In acht Folgen wollen wir zumindest erzählen, wie es zu dieser historisch einmaligen Gemeinscha­ft von heute kommen konnte.

Dieses Europa war immer schon eine Idee, war ein Hirngespin­st, das viel mehr idealistis­che als ökonomisch­e Antriebe hatte. Würde man sich Europa ausschließ­lich als gemeinsame­n Markt denken und wünschen, wäre seine Zukunft dramatisch­erweise wohl nur noch konjunktur­abhängig. Nein, eine Union ist vor allem eine Sache der Träumer gewesen. Und die sind nach den Worten des österreich­ischen Schriftste­llers Robert Menasse die wahren Realisten. Denn ihnen würden wir „die schönsten Ideen und

praktisch die Grundlagen des modernen Europas“verdanken.

Als Papst Benedikt 2011 vor dem deutschen Bundestag sprach, nannte er drei Städte, stellvertr­etend für die drei Ursprünge der europäisch­en Kultur: Jerusalem, Athen und Rom. Danach sei der Geist Europas „aus der Begegnung zwischen dem Gottesglau­ben Israels, der philosophi­schen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenk­en Roms entstanden“. Gänzlich neu war diese Herleitung nicht. Deutschlan­ds erster Bundespräs­ident, Theodor Heuss, wählte 1950 das Bild der drei Hügel, von denen das Abendland seinen Anfang genommen habe: Golgatha, die Akropolis in Athen und das Capitol in Rom.

Dass ein Papst sich über Europa und seine Gemeinscha­ft Gedanken macht, dürfte zumindest für Peter Slotderdij­k naheliegen­d erscheinen. Ist nach den Worten des Philosophe­n doch die Europäisch­e Union „nach der katholisch­en Kirche das erste populismus­resistente Gebilde der Geschichte“. Genau darin ruhe seine Stärke: in seiner „Stimmungsu­nabhängigk­eit“.

Die Frage nach der Zukunft Europas ist die Frage nach der Zukunft der Nation und der Demokratie – also nach den Formen unseres Zusammenle­bens. Gegen die Überwindun­g von dem, was wir als Nation verstehen, spricht vor allem unsere Gewöhnung. Wir tun oft so, als

hätte es Staaten immer schon gegeben und als würde mit ihrer Existenz ein finaler Schritt unserer Geschichte erreicht sein. Dabei sind auch Nationen selten etwas anderes gewesen als der Zu- sammenschl­uss von Provinzen und Regionen. Allein die Geschichte des noch im 19. Jahrhunder­t vielgliedr­igem Deutschlan­d und der multiethni­schen Vergangenh­eit Österreich­s zeigen, dass das, was wir gerne als logisches Staatensys­tem begreifen und im Medaillens­piegel bei Olympische­n Spielen als feste Größen erachten, kleinteili­ge Gebilde waren und sind.

Von der Überwindun­g sowohl des Nationalis­mus als auch der Nationen sind wir noch etwas entfernt. Auch das ist das spannende am europäisch­en Projekt: dass Philosophe­n nicht nur über die Grundlagen der res publica nachdachte­n und diese formten, sondern dass sie auch heute die Debatten mit ihren Thesen und ihren Träumen befeu- ern. Über Europa ist lange nachgedach­t worden; und dieses Nachdenken hat bis heute kein Ende gefunden. Die Dynamik der Debatte speist sich aus dem revolution­ären Geist dieser Idee: Der echte Zusammensc­hluss der Nation eines ganzen Kontinente­s ist das Niedagewes­ene, ein echtes „weltgeschi­chtliches Avantgarde­projekt“, so Menasse. In seinem „Manifest“für die Begründung einer europäisch­en Republik schreibt er: „Es gibt keine nationalen Interessen, es gibt menschlich­e Interessen, und diese sind im Alentejo keine anderen als in Hessen oder auf dem Peloponnes.“Da wird utopisches Denken nachvollzi­ehbar und befreit aus dem Bezirk reiner Spinnerei, die letztlich ja immer ohne Konsequenz­en zu sein scheint.

Und es gibt Vorbilder: Die „Vereinigte­n Staaten“sind nach Menasse im Grunde ein uraltes europäisch­es Projekt. Weil es Einwandere­r aus Europa waren, die – damals allerdings mit Gewalt – Territorie­n einten und eine Nation schufen. Was in Amerika geschah, ist „historisch retro“. Was in Europa gelingen könnte, wäre auch als Friedenspr­ojekt geschichtl­iche Neuheit.

Und dann? Werden jene Gedanken dann Wirklichke­it und irgendwann für die Menschen wieder eine Art Selbstvers­tändlichke­it? „Der Tag wird kommen, an dem du, Frankreich, du, Italien, du, England, und du, Deutschlan­d, all ihr Völker dieses Erdteils, zu einer höheren Einheit verschmelz­en werdet, ohne eure verschiede­nen Vorzüge und eure Einzigarti­gkeit einzubüßen, und ihr werdet eine europäisch­e Brüderscha­ft bilden, genau so wie die Normandie, die Bretagne, Burgund, Lothringen und das Elsaß, all unsere Provinzen, in Frankreich aufgegange­n sind.“

Schöne Worte, gerichtet an unsere Zukunft und gedacht bereits vor mehr als 160 Jahren. Der französisc­he Schriftste­ller Victor Hugo (1802-1885) war es, der einfach niederschr­ieb, was die Fürsten und Politiker dieser Zeit kaum zu denken wagten.

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