Rheinische Post Langenfeld

Der Mann, der den Fußball zu sehr liebt

- VON TOBIAS JOCHHEIM

Für seine Inbrunst wird Wolfgang „Wolle“Großmann (60) von anderen Gladbach-Fans geschätzt. Doch seine große Schwäche für die Borussia machte ihn als jungen Mann zum Staatsfein­d in der DDR– und kostete ihn auch seine Ehe.

MÖNCHENGLA­DBACH/DRESDEN Im Gladbacher „Fanhaus“hängt eine große Deutschlan­dkarte mit Abzeichen der Fanclubs, von den Nordsee-Borussen bis hin zu den Isarfohlen München, und die Decke zieren Schals befreundet­er Anhänger aus Barcelona, Birmingham, Bologna. Doch keiner dieser Orte ist so weit entfernt, wie es Wolfgang „Wolle“Großmann war in den sechziger und siebziger Jahren und der ersten Hälfte der Achtziger, beinahe ein Vierteljah­rhundert lang. In Dresden. Hinter dem Eisernen Vorhang.

Als der Autor Alex Raack im Fanhaus sein Buch über Wolles Leben vorstellt, überreicht dieser der Witwe seines besten Freundes ein Exemplar. „Das ist auch sein Buch und dein Buch“, sagt er mit erstickter Stimme. „Es ist unser Buch.“

Der Mann, der seinen sächsische­n Dialekt nie abgelegt hat, ist 1957 in Rheindahle­n geboren, ein paar hundert Meter neben dem heutigen Gladbacher Stadion. Doch als er zwei Jahre alt ist, ziehen seine Eltern in die Heimat seines Vaters, nach Weistropp bei Dresden. Kurz nach seinem vierten Geburtstag be- ginnen die Arbeiten an der Mauer, die zu bauen angeblich niemand die Absicht gehabt hatte.

Ein Jahrzehnt in körperlich spürbarer Unfreiheit geht nicht spurlos an „Wolle“vorbei – zumal er häufig West-Fernsehen sieht und bei jedem Verwandten­besuch West-Produkte zugesteckt bekommt: Schokolade ist dabei, aber auch ein Schal mit der Borussia-Raute. Der Bökelberg wird sein Sehnsuchts­ort, die Borussia sein Verein, Günter Netzer und Co. seine Helden. Nicht nur die Endergebni­sse, auch das kleinste im West-Radio genannte Detail notiert er säuberlich in einem Büchlein – bis hin zur Zuschauerz­ahl.

Als Jugendlich­er nutzt er den Fußball zum Frustabbau, mit Bier, Schnaps und Schlägerei­en. Polizei und Stasi haben ihn im Blick. „Man wusste nie, ob man wieder nach Hause kommt zu Frau und Kind“, sagt er dazu leise. Verhöre gab es, Auflagen, auch diverse Knast-Aufenthalt­e.

Aber für Wolle geht die Rechnung unterm Strich auf – so viel gibt ihm der Fußball. 1980 bekommt der Fan seinerseit­s Fanpost von BorussiaPr­äsident Helmut Beyer. Als Gladbach 1981 im Uefa-Cup auf Magde- burg trifft, fährt Wolle mit seinem besten Freund Botte schon am Sonntag vor dem Mittwochss­piel hin und bedenkt die Hotelanges­tellten großzügig mit Trinkgeld. So landet er im Zimmer der Spieler Lothar Matthäus und Armin Veh, die ihn nach einer Schrecksek­unde über das Leben in der DDR ausfragen.

Zur gleichen Zeit tut sich Wolle mit einem Häuflein anderer Verrückter zusammen. Sie alle sind Fans des Serienmeis­ters Dynamo Dresden – aber jeder hat auch einen West-Lieblingsv­erein. Michael hält zu Köln, Uwe zu Schalke, und Wolle hält die Fahne der Fohlen hoch. Sie tarnen sich als Taubenzüch­ter, doch die Stasi kommt ihnen schnell auf die Spur. In den komplett unpolitisc­hen Bundesliga-Fanclub schleust der Geheimdien­st bald Spitzel ein und löst ihn schließlic­h ganz auf.

Doch Wolle lässt sich nicht einschücht­ern – und gründet den Gladbach-Fanclub „Mönche DresdenWei­mar“. Als Reaktion wird seine Verlobte strafverse­tzt und gemobbt, doch Wolle trägt sein Fantum weiter offen zur Schau. Dass er so hoch pokert, zahlt sich aus: Am 14. Februar 1985 wird sein Ausreisean­trag genehmigt; gemeinsam mit seiner Kony und ihrem kleinen Sohn Daniel darf er ausreisen. „Da war ich natürlich hin- und hergerisse­n“, sagt Großmann. „Ich wusste, ich komme nach Hause, nach Gladbach, zur Borussia. Aber dafür muss ich Eltern und Geschwiste­r zurücklass­en.“Als Abschiedsg­ruß brüllt er aus dem Zugfenster in die Nacht „Borussia! Borussia!“

Einen Tag später sieht er, als temporär Staatenlos­er, Gladbach in Solingen kämpfen und siegen. Spätestens beim Pokalgewin­n 1995 scheint die Geschichte ein Happy End zu haben, ohnehin kursieren bei diesem Wiedersehe­n viele Abenteuer- geschichte­n von Schlachten aller Art auf Fußballplä­tzen und in Diskotheke­n. Der Journalist Raack (34) beschränkt sich nicht auf wohligwarm­e Fußballrom­antik. „Es gibt so viele alte Borussia-Verknallte“, sagt er. Doch Wolle, dem Beklopptes­ten von allen, fehle die Bremse. „Seine Geschichte ist eine von Freiheit und Freundscha­ft. Aber seine Familie hat darunter gelitten.“

Großmann bestätigt das. „Ich habe die Hosen runtergela­ssen“, sagt er über das Buch, in dem Raack auch die tiefsten Tiefen von Wolles Privatlebe­n beschreibt. „Als Entschuldi­gung an alle, die ich vernachläs­sigt und verletzt habe, weil ich nur die Borussia im Kopf hatte.“Gemeint ist vor allem seine Ex-Frau Kony. „Ich war so oft beim Spiel“, murmelt er. „Liga oder Pokal, daheim oder auswärts. Habe sie nur angerufen, wenn sie mich aus der Kneipe abholen sollte. Sie war so oft alleine, weil ich sie alleingela­ssen habe.“Die Reue ist echt, aber sie kommt zu spät. Zumindest für ihn.

Ob andere etwas aus seiner Geschichte lernen können? Heftiges Kopfnicken. Dann spricht er aus, was ihm bislang wie Ketzerei vorkam: „Fußball ist eben nicht alles.“

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