Das Haus der 20.000 Bücher
Wenn Mimi fröhlich die Geschichte von Chimens trunkener Eskapade erzählte, saß er kleinlaut daneben, lächelte schelmisch und hörte mit gespieltem Entsetzen zu. Er glich dem Sozialisten Etienne Lantier, der Hauptgestalt in Emile Zolas Roman Germinal: „. . . all der Jammer verschwand wie hinweggescheucht durch einen ungeheuren Sonnenstrahl; und in einem blendenden Feenglanze stieg die Gerechtigkeit vom Himmel hernieder. Da der gute Gott tot war, musste die Gerechtigkeit das Glück der Menschen sichern, indem sie die Gleichheit und Brüderlichkeit herrschen ließ. Eine neue Gesellschaft wuchs an einem Tage heran – wie in den Träumen –, eine neue, ungeheure Stadt von wunderbarem Glanz, in der jeder Bürger von seiner Beschäftigung lebte und seinen Anteil an den gemeinsamen Vergnügungen hatte.“Mit einer gehörigen Portion Zynismus fügte Zola hinzu: „Dieser Traum breitete sich immer mehr aus und ward immer schöner; und je höher er in die Unmöglichkeit hinanstieg, desto verführerischer wurde er.“
Aber wiewohl meine Großeltern in jungen Jahren die Vergangenheit hinwegfegen und eine bessere Welt auf neuen Fundamenten erbauen wollten, hegten sie auch einen tiefen Glauben an die Familie und an die Verpflichtungen gegenüber vorangegangenen und kommenden Generationen. Für die Tochter frommer Einwanderer, die vor den zaristischen Pogromen geflüchtet waren, und für den Sohn von Rabbi Abramsky, einem einstigen politischen Häftling in der Sowjetunion, nun Oberer Dajan des Londoner Beth Din und damit einer der höchstrangigen Rabbiner Europas, bedeutete das, eine strikt koschere Küche zu führen. Zudem habe ich den Verdacht, dass sie im Grunde ihres Herzens – im Allerheiligsten jenseits der Reichweite der Ideologie – nie uneingeschränkt an ihre eigenen antireligiösen Dogmen glaubten.
Möglicherweise fühlte sich Chimen wie eine der Figuren in dem Erzählungsband Geschichten aus Odessa des sowjetisch-jüdischen Schriftstellers Isaak Babel über die russische Revolution und ihre Folgen. Die Erzählung trug den Titel „Der Gangster Benja Krik“, und Chimen verwahrte den Band in seinem Büro im University College. „,Gedali’, sagte ich, ,heute ist Freitag, und es ist schon Abend. Wo kann man einen jüdischen Keks, ein jüdisches Glas Tee und in dem Glas einen kleinen Geschmack von dem Gott bekommen, der zum Rücktritt aufgefordert worden ist?’ – ,Nirgendwo’, antwortete Gedali und brachte das Vorhängeschloss an seinem Tavernenkästchen an, ,nirgendwo.’“Im Namen der Ideologie hatten Mimi und Chimen ihren Gott in den Ruhestand treten lassen, doch für den Rest ihres Lebens verharrte Er im Hintergrund und führte sie in Versuchung, Ihn durch die Rituale und Bräuche in ihrem Alltag wiederauferstehen zu lassen. Sigmund Freud hatte sich einmal über die Gemeinde jüdischer „Unglaubensgenossen“geäußert. Zu den Mitgliedern einer solchen Synagoge, schrieb der Historiker David Biale, seien Freud selbst, Spinoza und Heinrich Heine zu zählen, die nicht aus innerer Überzeugung zum Christentum konvertiert seien, sondern um sich eine „Eintrittskarte“in die europäische Gesellschaft zu verschaffen. Hätte eine solche Synagoge wirklich existiert, wären Chimen und Mimi wahrscheinlich treue Mitglieder gewesen.
Mimi und Chimen schienen mit ihren Kompromissen zufrieden zu sein: Sie hielten an der Tradition fest und befolgten die Rituale, ohne von ihren persönlichen religiösen und politischen Überzeugungen abzurücken. Doch die jüngere Generation stellte diesen Balanceakt auf die Probe. Nachdem Jack seine Hochzeit mit Lenore für den Frühherbst 1966 bekannt gegeben hatte, führte Chimen das erste einer Reihe unglücklicher Streitgespräche mit der Braut über die Rolle der Religion im täglichen Leben. Lenore war als Atheistin aufgewachsen und lehnte den Gedanken, traditionsgemäß in einer Synagoge getraut zu werden, vehement ab. Chimen verkündete, er wolle sich lieber damit abfinden, dass Jack und Lenore in wilder Ehe lebten, als eine demütigende standesamtliche Trauung hinzunehmen. Als Lenore, eine modebewusste junge Frau aus Kalifornien, ganz Kind der Sechziger, ein schickes ärmelloses Hochzeitskleid in königlichem Purpur wählte, erklärte mein Großvater, dass die frommen Familienmitglieder entsetzt wären angesichts der Zurschaustellung so viel weiblichen Fleisches. An beiden Fronten fand sich, nach Wochen des Feilschens, eine unbequeme, aber praktikable Lösung. Man verständigte sich darauf, eine verkürzte Trauungszeremonie abzuhalten, geleitet von einem Angehörigen des Beth Din, an die sich zwei Empfänge anschließen würden; stattfinden sollte alles im Garten des Hillway. Zuerst erschienen die Familienmitglieder (Lenore mit langen Ärmeln) zur Trauung durch einen Rabbiner unter dem jüdischen Traubaldachin, der chuppa, und dann trafen die frommen Gäste zu einem kurzen Empfang ein. Und nachdem diese sich verabschiedet hatten, durfte Lenore schließlich die abnehmbaren Ärmel von ihrem Kleid entfernen, bevor mit den weltlichen Gästen gefeiert wurde. Es ergab keinen Sinn – außer für Chimen, denn er erinnerte sich gewiss an die Geschichten, die seine Eltern ihm über ihre eigene Eheschließung im Sommer 1909 erzählt hatten. Damals waren sämtliche Einwohner des Schtetls Ihomen erschienen, um mitzuerleben, wie die Tochter von Rabbi Jerusalimski, die Enkelin des berühmten Rabbi Willowski, den aufstrebenden Religionsgelehrten heiratete, den seine Schüler als Moster Zadik kannten; vierhundert cheder- Schüler paradierten mit brennenden Fackeln vorüber, während Yehezkel und Raizl zur chuppa geleitet wurden. Chimens und Mimis eigene Trauung hingegen beschränkte sich auf eine bescheidene, knappe Zeremonie im Silberstein’s, einem jüdischen Restaurant im Londoner East End. Yehezkel und sieben weitere Rabbiner hatten die Trauung abgehalten, und sie war von Mimis Schwager Samuel Barnett und einem Standesbeamten am 20. Juni 1940 bezeugt worden – nur wenige Tage nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Paris (und kurz bevor die französische Regierung vor Hitler kapitulierte) und auf den Tag genau einunddreißig Jahre nach Yehezkels und Raizls Hochzeit. Nun, 1966, acht Jahre nach seinem Austritt aus der Kommunistischen Partei, war Chimen bestrebt, im Sinne seiner Eltern zu handeln: Er wollte dafür sorgen, dass Jack verheiratet wurde, wie es sich gehörte.
(Fortsetzung folgt)