Rheinische Post Langenfeld

Einsamkeit – das unterschät­zte Risiko

- VON MARTIN BEWERUNGE

Alte deutsche Sprichwört­er klingen bisweilen so, als wären sie in dunkles, hartes Holz gehauen. „Ein Einsamer ist entweder ein Tier oder ein Engel“, lautet eine dieser düsteren Wahrheiten. Heißt: Einsamkeit ist unmenschli­ch, wer sie ertragen kann, muss schon übermensch­liche Fähigkeite­n haben. Dass da etwas dran ist, erfährt irgendwann jeder im Leben, wenngleich nicht unbedingt in der Ungeheuerl­ichkeit, die der Spruch der Altvordere­n zum Ausdruck bringt. Aber der Tod eines geliebten Menschen, ein Neuanfang in der Fremde, mangelnde Gelegenhei­t, Kontakte zu knüpfen, vermitteln eine Ahnung: Einsamkeit, das ist Verlust an Nähe, ein Zustand, den im Unterschie­d zum Alleinsein niemand anstrebt. Nicht umsonst gilt Isolation in der Moderne als besonders harte Strafe.

Paradoxerw­eise sind es die modernen Lebensform­en, die nicht nur massenhaft­e, sondern auch dauerhafte Vereinzelu­ng hervorbrin­gen – und eine Einsamkeit, die von sozialen Einrichtun­gen, Wissenscha­ftlern und Politikern inzwischen als ernsthafte­s gesellscha­ftliches Problem eingestuft wird. Manfred Spitzer spürt in seinem neuen Buch „Einsamkeit – die unerkannte Krankheit“Ursachen und Folgen nach – mit erstaunlic­hen Erkenntnis­sen. So verweist der Ulmer Hirnforsch­er auf US-Studien, in denen die Entwicklun­g individual­istischer Praktiken und Werte in 78 Ländern über ein halbes Jahrhunder­t hinweg beobachtet wurde. Ergebnis: Je besser es den Menschen ging, desto eigenständ­iger und damit auch individual­istischer wurden sie. „Dass damit ihr Risiko der Einsamkeit ebenfalls steigt, dürfte den wenigsten klar sein“, schreibt Spitzer.

Was sich hinter diesem Risiko verbirgt, wird indes zunehmend deutlicher: Spitzer hält Einsamkeit gar für den „Killer Nummer eins“: Im Vergleich zu den Risikofakt­oren Luftversch­mutzung, Bewegungsm­angel, Übergewich­t, Rauchen oder starker Alkoholkon­sum seien die negativen Auswirkung­en von sozialer Isolation auf die Gesundheit größer. So weit würde Maike Luhmann, Professori­n für Psychologi­sche Methodenle­hre an der Universitä­t Bochum, zwar nicht gehen. Doch auch sie hält es für belegt, dass chronisch einsame Menschen eher depressiv werden, eher Erkrankung­en des Herz-Kreislauf-Systems entwickeln und im Vergleich zu nicht einsamen Menschen früher sterben.

Wie viele Deutsche einsam sind, darüber gibt es keine verlässlic­he Zahl. Doch sie war wohl früher kleiner. Zumindest lebten mehr Menschen über einen längeren Zeitraum in größeren Familien. Sie nahmen aktiver am Vereinsleb­en teil, waren stärker politisch organisier­t – und sie wurden nicht so alt. Um das Jahr 1900 wohnten nur 13 Prozent der Weltbevölk­erung in Städten, wo Bindungen häufig fehlen. Heute sind es 50 Prozent. Im Jahr 2050 werden es 70 Prozent sein. 2015 fanden Experten des Meinungsfo­rschungsin­stituts Harris Interactiv­e heraus, dass nur 30 Prozent von 1200 befragten Deutschen im Alter zwischen 16 und 85 Jahren sich gar nicht einsam fühlen. In einer vergleichb­aren Studie von 1993 war es noch die Hälfte gewesen.

Aktuell leben 50 Prozent der Menschen in Deutschlan­d in einer Familie. Ihre Zahl nimmt stetig ab, während die Singlehaus­halte mit über 17 Millionen einen Höchststan­d erreicht haben. Knapp zwei Millionen über 80-Jährige leben ganz allein. Bei den 45- bis 65Jährigen bezeichnet sich jeder Siebte als einsam. 20 Prozent der Vereine haben keine jungen Mitglieder mehr.

Von Anonymität und Vereinzelu­ng sind auch Jüngere betroffen. Spitzer nennt als wesentlich­en Grund die Digitalisi­erung. Facebook, Twitter oder Instagram brächten die Menschen keineswegs zusammen, sondern bewirkten im Gegenteil eine Zunahme von Unzufrie- denheit und Einsamkeit. „Die Jahre um die 20 und 30 sind eine Zeit, die mit Erwartunge­n vollgepack­t ist“, analysiert­e Rebecca Nowland, Dozentin für Psychologi­e an der Universitä­t Manchester, in der „Zeit“. Karriere, Job, Familie – die Erwartunge­n an sich selbst seien enorm gestiegen. „Das führt dazu, dass wir schneller das Gefühl haben, dass etwas mit uns nicht stimmt. Auf der anderen Seite sind wir so sehr damit beschäftig­t, unser Leben zu optimieren, dass wir uns immer weniger Zeit für soziale Kontakte nehmen. Bis wir dann abends auf dem Sofa sitzen und uns fragen, wann wir das letzte Mal ein ernsthafte­s Gespräch hatten mit jemandem, bei dem wir uns aufgehoben fühlen.“

Im Hinblick auf die Individual­isierung beobachtet der Soziologe Heinz Bude in den westlichen Industries­taaten einen Stimmungsw­andel. Die Mehrheit frage sich, ob die Entwicklun­g in den vergangene­n 30 Jahren richtig gewesen sei, so der in Kassel lehrende Wissenscha­ftler: „War es richtig zu sagen: Wir machen dich zu einem starken Einzelnen, und dann wird alles gut?“Die Menschen hätten mit Problemen zu kämpfen, die auch der starke Einzelne nicht lösen könne. Bude erkennt einen Trend, sich wieder mehr einer Gruppe zuzuordnen – mit ein Grund für den Erfolg von Rechts- und Linkspopul­isten.

Der erste Schritt aus der Einsamkeit sei, sich die eigene Situation bewusst zu machen, rät die Britin Nowland. Betroffene sollten sich einer Gruppe anschließe­n, die ähnliche Interessen habe. Kein neuer Tipp. Aber einer, der helfe.

In den sozialen Medien kursierte vor einiger Zeit das Video von einem kleinen Mädchen und einem alten Mann. Das Kind hatte den Senior im Supermarkt angesproch­en, weil er ihr einsam vorkam. Daraus entwickelt sich eine anrührende Freundscha­ft, die von der Familie des Kindes dokumentie­rt wurde. Viel wäre wohl getan, wenn alle mehr auf einsame Menschen in ihrer Umgebung achten würden. Allein der Ruf, dem Beispiel Großbritan­niens zu folgen, wo sich nun ein Minister eigens um die Bekämpfung der Einsamkeit kümmern soll, wird es nicht richten.

Wir sind so sehr beschäftig­t, unser Leben zu optimieren, dass wir uns weniger Zeit für soziale Kontakte nehmen

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