Das Haus der 20.000 Bücher
Auf der Fahne stehen die Worte „La 1871 Commune ou la mort“(Die Kommune von 1871 oder den Tod). Politische Karikaturen spotteten über die Impotenz von Kaiser Napoleon III.; konservative Kommentare der englischen Presse brandmarkten den Atheismus, die Missachtung des Eigentums und die Blutrünstigkeit der Revolutionäre (ein Bild des berühmten Illustrators George Cruikshank trug den Titel „Eine schreckliche Lektion für die Welt und für alle Zeiten“); es gab Reproduktionen der 1792 von Robespierre veröffentlichten Erklärung über „Menschen- und Bürgerrechte“sowie der Revolutionsmanifeste des Sozialisten Louis-Auguste Blanqui. Viele Abbildungen zeigten Skelette, die von pastellfarbenen Blumenarrangements umgeben waren; die Totenschädel sollten verschiedene dem Untergang geweihte politische Bewegungen und Gesellschaftsstrukturen symbolisieren und starrten dem Betrachter dämonisch entgegen. Sie waren Teil einer ikonografischen Tradition, die sich von Goyas Skizzen der Napoleonischen Kriege auf der Iberischen Halbinsel fast siebzig Jahre zuvor bis zu den Schallplattenhüllen der Grateful Dead ein Jahrhundert später erstreckt.
Chimen hatte die Sammlung in bereits gebundener Form Jahrzehnte vor meiner Geburt auf einer Auktion bei Sotheby’s erstanden. Eines meiner Lieblingsbilder, das sich in Band 21 verbarg, war „Les Amis de l’Ordre“(Die Freunde der Ordnung). Es zeigt einen glatzköpfigen dicken Mönch in einer braunen Kutte, der die Füße einer ausgestreckt auf einem Tisch liegenden Frau – sie repräsentiert die République – umfasst, während der abgesetzte Kaiser Napoleon III. und der Herzog von Aumale, einer der möglichen Thronprätendenten, sie an der Brust niederhalten. Die grässliche Szene wird von einem gut gekleideten Mörder vervollständigt, nämlich Adolphe Thiers, Oberhaupt der kommunefeindlichen Regierung; sein Bauch berührt den Kopf der Republik, er schickt sich an, ihr ein Messer ins Herz zu stoßen. Das Ganze war nicht sonderlich subtil, aber es vermittelte einen angemessenen Eindruck des Grotesken, des Verrats an den Idealen der Kommune.
Mit seiner Art der Aufbewahrung dieser wertvollen Plakate eiferte Chimen, ob bewusst oder unbewusst, den Studenten der Woloschiner Jeschiwa in Telz und der anderen großen Religionsschulen nach, die sein Vater besucht hatte. Da die Rabbiner und der Dekan der Jeschiwa jedes literarische Bindeglied zur gefährlichen säkularen Außenwelt untersagten, abonnierten die kühneren Studenten Zeitungen und wissenschaftliche Zeitschriften. Solch intellektuelles Abenteurertum, schrieb der ehemalige Student Natan Grinblat später, sei ein verbotener Genuss gewesen wie „das Trinken von schwerem Wein“. Denn erst wenn ein Rabbiner ein hebräisches Buch durch eine haskama – eine Art Genehmigungsstempel, der bestätigte, dass der Inhalt nicht ketzerisch war – beglaubigt hatte, war es den Studenten zugänglich. Die Zeitungen und Zeitschriften, die man in städtischen Postämtern abholte, wurden verstohlen von Hand zu Hand weitergegeben, ähnlich wie Samisdat-Exemplare verbotener Bücher wie Doktor Schiwago oder Der Archipel Gulag Jahre später in der Sowjetunion von einem Leser zum anderen gelangen sollten. Schließlich wurden die Publikationen sorgfältig jahrgangsweise in einem Einzelband zusammengefasst und hoch oben auf einem Bücherregal verborgen. Als junger Mann hatte Yehezkel verbotene Haskala-Texte gelesen und war – ein überraschender Akt der Rebellion – so weit gegangen, sich mit bedeutenden russischen Schriftstellern wie Dostojewski und Tolstoi vertraut zu machen; für die Rabbiner war dies bittul Torah, also, grob gesagt, eine totale Verschwendung der Zeit, die man besser dem Studium des Talmud hätte widmen sollen. Es kam sogar vor, dass Leser solcher Bücher als apikorsim (Ketzer) angeprangert wurden. Aber mit der Lektüre von Büchern wie Dostojewskis Verbrechen und Strafe erschöpfte sich Yehezkels Aufsässigkeit auch schon – sieht man einmal von dem lässlichen Vergehen ab, dass er sich zu einem exzellenten Schwimmer entwickelte, vermutlich in den zahlreichen Flüssen, die seine Heimat Litauen durchzogen. In einer Zeit bedeutender politischer Umbrüche, als Juden eine enorme Rolle bei den Protesten in Russland spielten – 1905 war ein Drittel der politischen Häftlinge im Russischen Reich jüdischer Herkunft –, hielt Yehezkel sich von weltlichen Belangen fern.
Als Yehezkel erwachsen wurde, teilte er die strengen Ansichten der Mussar-Bewegung mit ihrer Selbstverleugnung und Askese, die Ketzer aus den Jeschiwas seiner Jugend energisch entfernt hatte. Die moderne Welt war voller Verlockungen, doch aus ebendem Grund seiner Meinung nach auch voller Gefahren. Yehezkel ähnelte in dieser Hinsicht vielen der führenden MussarVertreter, bereits älteren Männern, die sich in jungen Jahren an neue ethische und philosophische Ideen herangetastet hatten, von wissenschaftlichem Fortschritt und sogar von großen Romanen und neumodischen Theorien, wie etwa denen Sigmund Freuds, fasziniert gewesen waren, nur um schließlich tief in die Orthodoxie zurückzufallen. Shaul Stampfer schreibt, dass der Wortschatz dieser Männer häufig „der Philosophie und Psychologie entlehnt war“, sie sich jedoch auch religiöse Texte wie Mesilat Yesharim („Pfad der Gerechten“) einprägten und sie wiederholt im Chor singen ließen, als eine Art Schutznetz für die Studenten – sowohl für die Sänger selbst als auch für ihre Kommilitonen –, das verderbliche Einflüsse der Außenwelt abwehren sollte. Obwohl Chimen der Haskala anhing, blieb er sein Leben lang in gewisser Weise unter dem Schutz jenes Netzes. Er, ein Mann der Moderne, war gleichwohl in vielerlei Hinsicht von der Welt seines Vaters, seines Großvaters mütterlicherseits und seines Urgroßvaters geprägt worden – der langen Reihe legendärer Rabbiner, zu deren Nachkommen er zählte.
Mitten in Mimis und Chimens Wohnzimmer lag ein gewebter, dunkelvioletter Wollteppich auf den unebenen, nicht abgeschliffenen Bohlen, die in den Kriegsjahren als behelfsmäßiger Fußbodenbelag gedient hatten und nie ausgetauscht worden waren. Zwei oder drei recht ungefüge, nicht zueinander passende Sessel und ein alter Schaukelstuhl aus Holz mit einer harten Rückenlehne drängten sich mitten im Zimmer in einem Halbkreis. So ließ sich von jedem Platz aus Hof halten.