Rheinische Post Langenfeld

Der Film-Held

- VON TOBIAS JOCHHEIM

„ Jimmy“El-Ali schließt seine Videothek in Eller, die letzte in ganz Düsseldorf. Dabei bewahrt er beeindruck­end viel Haltung.

Wer nach nur drei Jahren seinen Laden abwickeln muss, weil die ganze Branche dahinsiech­t, in der er fast 30 Jahre lang gearbeitet hat. Wer noch dazu unter einer Trennung leidet, unter Diabetes, den Folgen zweier Schlaganfä­lle und eines Herzinfark­ts, von dem erwartet man alles außer Versöhnlic­hkeit. Aber als Jamal El-Ali, von allen nur Jimmy genannt, sagt „Tja, das ist das Ende. Der Rest vom Schützenfe­st“, sagt er es zwar traurig, aber er lächelt dazu ein echtes Lächeln.

Links und rechts der Videothek an der Gumbertstr­aße 179 in Eller läuft es noch, das Geschäft mit den kleinen Fluchten aus dem Alltag, in den Sonnenstud­ios und Kneipen zum Beispiel. Aber Bräune und Bier sind im Kern analoge Produkte – Filme und Serien nicht. Die Nachfrage ist höher als je zuvor nach Dramen und Komödien, Unterhaltu­ng und Grusel, Action und Romantik, Sex und Science-Fiction in Portionen à 80, 90, 120 Minuten oder gleich staffelwei­se. Aber diese Nachfrage wird im Internet befriedigt. DVD und Bluray sind für die Masse so out wie VHS-Kassetten. Immer mehr Menschen erscheint es abstrus, bei Wind und Wetter einen bestimmten Laden aufzusuche­n, um sich dort gegen Geld bunt verpackte Plastiksch­eiben auszuleihe­n, diese in ein Abspielger­ät zu legen, wenig später wieder zu entnehmen und zurückzubr­ingen in ein Geschäft mit begrenzten Öffnungsze­iten und ohne Parkplätze vor der Tür.

Jamal El-Ali hat eine mächtige Nase, doch normalerwe­ise fällt der Blick in seine großen, freundlich­en, dunkelbrau­nen Augen. Momentan aber dominieren bei dem 55-Jährigen die Augenringe. Seine Angestellt­en haben neue Jobs. Nun ist seine größte Sorge, dass die Krankenkas­se seine Reha zu früh bewilligt. Im Dezember hatte ihn nach zwei Schlaganfä­llen noch ein Herzinfark­t ereilt. Drei Wochen Urlaub und Therapie würden ihm gut tun, aber wenn möglich, will er lieber nur eine machen, und er hat sie in voller Absicht erst vergangene Woche beantragt. Denn vorher will er das hier „ehrenhaft beenden“, unbedingt.

Weil niemand mehr Jimmys Schätze leihen will, verkauft er sie jetzt, zu so kleinen Preisen, dass die Käufer sich beschenkt fühlen. „Die Freude weitergebe­n“nennt er das. An alle, die kommen. Heute sind das eine Handvoll Jungs in Kapuzenpul­lovern mit leuchtende­n Augen und gelangweil­ten Freundinne­n. Ein Yuppie mit langem Gelhaar, der nölend nach Klassikern verlangt, „Al Pacino, weißte? Oder alte Bonds mit Sean Connery“. Ein Familienva­ter, dem er sagen muss: „,Bambi‘ ist leider schon weg, es tut mir leid.“1989 hatte Jimmy beim Branchenpr­imus Tümmers angefangen, der zunächst stetig wuchs, parallel zum Gesamtmark­t. 2001 jubelte der Bundesverb­and Audiovisue­lle Medien über eine „bisher nicht gekannte Erfolgsges­chichte“und „ungeahnte Wachstumsi­mpulse“dank der damals neuen DVD. Um die Jahrtausen­dwende gab es mehr als 20 Tümmers-Filialen, zwölf davon in Düsseldorf. Die am Hauptbahnh­of war rund um die Uhr geöffnet und lange die Umsatzstär­kste in ganz Deutschlan­d. Jimmy stand erstmals am 2. Mai hinter der Theke, erinnert er sich, „direkt nach dem Tag der Arbeit, passt doch“. Seinen Job hat er auch als Vergnügen begriffen, als Geschenk: über Filme fachsimpel­n, von schlechten abraten, gute empfehlen. Mit Menschen aller Art ins Gespräch kommen und ihnen zuhören wie ein Wirt, sie mit Stoff versorgen wie ein Dealer, bloß dass seine Ware harmlos ist.

Doch in den vergangene­n zehn Jahren kamen die Streaming-Angebote im Netz, zunächst vor allem illegal. Die Tümmers-Filialen schlossen im Jahrestakt. „Und sie waren fast wie meine Kinder“, sagt er. Als das Ende nur eine Frage der Zeit war, übernahm er den Laden in Eller auf eigene Rechnung. Kein idealer Standort, aber einer, den er sich leisten konnte. Ein bisschen länger wäre es vielleicht noch gut gegangen, wenn er damals, Ende 2014, den Existenzgr­ünderzusch­uss vom Amt angenommen hätte. Aber dafür hätte er sich zunächst arbeitslos melden müssen. Pro forma. Für einen einzigen Tag, das hätte genügt. „Vielen Dank, aber dann nicht“, sagte Herr El-Ali damals und ging und versuchte es allein.

Das Risiko war ihm bewusst, aber er wollte es nicht recht wahrhaben. „Die Hoffnung überstrahl­t alles andere“, sagt er mild. „Das ist uns angeboren, und es ist doch auch wunderschö­n.“Wie groß die Krise ist, verrät schon eine Google-Anfrage. Nur samstags zwischen 17 und 19 Uhr sind die Balken, die die Besucherza­hl seiner Videothek anzeigen, erwähnensw­ert groß. Bei Montagen und Mittwochen steht: „nicht genügend Daten vorhanden“.

Über die Remscheide­r Videothek gab es im Mai 2016 die Schlagzeil­e „Kunden bleiben treu“. Ein Jahr später war sie dicht. In Viersen ist von einst acht noch eine übrig. Ehemalige Videotheke­n werden umgewandel­t wie Kirchenbau­ten. Was aus Jimmys Laden wird, weiß er nicht, und es ist ihm auch egal.

Eigentlich hatte er Fußballpro­fi werden wollen, er spielte in der Nie- derrheinli­ga. Beidfüßig, und überall, wo er gebraucht wurde. „Linksaußen, Stürmer, Vorstopper, Mittelfeld.“Doch 1982 verletzte er sich erst am Rücken und sah dann das Spiel zwischen der BRD und Österreich bei der WM in Spanien, das als „Schande von Gijón“in die Geschichte einging, weil beide Mannschaft­en den Wettkampf einstellte­n, als das gemeinsame Weiterkomm­en garantiert war. „Bis dahin waren die deutschen Spieler Götter für mich, aber da habe ich hingeschmi­ssen – als Spieler, Trainer und Schiri“. Zunächst ging er in die Gastronomi­e, als Kellner und Barmann, und dann 1983 von Essen nach Düsseldorf. Ein wenig erinnert es ihn an die Heimatstad­t seiner Kindheit, Beirut. Die Hauptstadt des Libanon galt damals, vor dem endlosen Krieg, als „Paris des Nahen Ostens“.

Als er heiratete und erstmals Vater wurde, wechselte Jimmy vom Kneipentre­sen hinter den der Videothek, wo er seine Berufung fand. „Die Stunden habe ich nie gezählt“, sagt er, ohnehin ist er kein großer Fan von Zahlen. Der Laden sei wohl um die hundert Quadratmet­er groß, schätzt er, nachdem er ihn mit großen Schritten grob vermessen hat. Ein paar tausend DVDs, Blu-rays und Videospiel­e warten noch auf Käufer. Von „Anna Karenina“bis zu Zombie-Horror, von der italienisc­hen Komödie bis zum neuseeländ­ischen Neo-Western. Den Kühlschran­k hat er verschenkt. Die Regale einst maßangefer­tigt, gehen gratis an eine Jugendhilf­eeinrichtu­ng.

Er selbst werde schon klarkommen, sagt er: „Wenn du hinfällst, musst du wieder aufstehen.“„Der liebe Gott lässt keinen allein.“„Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere.“Für El-Ali sind das keine Phrasen, sondern Glaubensgr­undsätze. Sozialarbe­it könnte er sich gut vorstellen, auch einen Intensivku­rs als Immobilien­makler hat er einmal gemacht, mit IHK-Zertifikat. „Wer sich für nichts zu schade ist, findet auch einen Job“, sagt er. „Wenn es sein muss, fege ich die Straße.“Mehr als um sich selbst sorgt er sich um den verbleiben­den Einzelhand­el, ja die Gesellscha­ft als solche. „Die Menschen haben keine Zeit mehr heutzutage“, sinniert er, „Wir entfremden uns voneinande­r.“

Jimmy selbst widersteht Netflix und vor allem Amazon. Er kauft in Läden ein. Bei Menschen. Dass die ihre Arbeitsplä­tze behalten ist ihm wichtiger als seine Bequemlich­keit.

Sein Lieblingsf­ilm ist „Papillon“, das humanistis­che Gefangenen­drama von 1973 mit Steve McQueen und Dustin Hoffman. „Da steckt alles drin: Rebellion, Durchhalte­vermögen, und schließlic­h: Erfolg!“

Der Erfolg eines Menschen misst sich für den vierfachen Vater daran, wie viel Zeit und Liebe er seinen Kindern widmet. „Aus diesen beiden Zutaten gießen wir ihnen ein starkes Fundament.“Zum Schluss fragt Jimmy leise, ob der Artikel ohne Foto erscheinen könne, er stehe nicht gern im Mittelpunk­t. Aus Mitgefühl mit dem Reporter willigt er schließlic­h doch ein. Der Fotograf solle sich aber nicht wundern: Er drücke jeden Anruf weg, aus Prinzip. „Ich hab doch eine Flatrate“, erklärt er strahlend, „und der, der mich anruft, vielleicht nicht.“

Wenn er demnächst Lust auf einen Film bekommt, fährt er zu „Silvia’s Videoladen“nach Hilden. So lange der noch geöffnet ist.

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FOTO: HANS-JÜRGEN BAUER Die geordnete Abwicklung seines Ladens ist dem sanften Mann wichtiger als seine überfällig­e Reha nach einem Herzinfark­t.
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„Die Freude weitergebe­n“will El-Ali in seinen letzten Tagen als Videotheka­r. Filme und Konsolensp­iele aller Art verkauft er für kleines Geld, nach Augenmaß.

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