Rheinische Post Langenfeld

Profisport­ler überschrei­ten Grenzen

- VON JESSICA BALLEER UND GIANNI COSTA

Nach Per Mertesacke­rs offenen Aussagen über den großen Druck im Profifußba­ll ist eine Diskussion entbrannt.

DÜSSELDORF Valentin Markser haben die Aussagen von Per Mertesacke­r nicht sonderlich überrascht. Der 65-Jährige führt eine Praxis für Psychiatri­e und Psychother­apie in Köln. Viele seiner Patienten sind Leistungss­portler, auch er war einer. Als Handballto­rwart in Gummersbac­h gewann er in den Siebzigern mehrmals den Europapoka­l. Robert Enke, der Torwart der deutschen Fußball-Nationalma­nn-

Valentin Markser schaft, der sich 2009 das Leben nahm, war bei Markser wegen seiner Depression­en in Behandlung.

„Seelische Belastunge­n“, sagt Markser im Gespräch mit unserer Redaktion, „gehören, genau wie die körperlich­en, zum Leistungss­port dazu. Es ist immer eine Wanderung auf der Rasierklin­ge, seine optimale Leistung zu trainieren und abzurufen. Dazu muss man immer wieder Grenzen überschrei­ten. Die Kunst ist letztlich, genau den richtigen Punkt zu treffen. Das gelingt allerdings nur den wenigsten.“Wissenscha­ftlicher Schwerpunk­t des Therapeute­n ist die seelische Gesundheit von Profis im Leistungss­port. Und das ist – auch achteinhal­b Jahre nach dem Freitod von Enke – noch ein Thema von hoher Relevanz. Zu wenig hat sich geändert, wie die jüngsten Aussagen von Per Mertesacke­r zeigen.

Im Nachrichte­nmagazin „Spiegel“hat sich der frühere Nationalsp­ieler und Weltmeiste­r über den Druck im Profifußba­ll beklagt. Er hat damit eine Debatte belebt, die im Liga-Alltag in Vergessenh­eit geraten war. Mertesacke­r berichtet bemerkensw­ert offen, wie sehr er Zeit seiner Karriere unter Druck gestanden und gelitten habe, dass ihm vor Spielen übel wurde, er dann mit Durchfall aufs Klo musste.

Als „besonders schlimm“bezeichnet er dabei die Zeit während der WM 2006 in Deutschlan­d. Die Nationalel­f schied im Halbfinale nach einem 0:2 gegen Italien aus. Mertesacke­r sagt heute, er habe das Ausscheide­n damals vor allem als „Erleichter­ung“empfunden. Mit diesen Statements hat er ein Tabu gebrochen. Viel Zuspruch, aber auch reichlich Kritik haben Mertesacke­rs Aussagen hervorgeru­fen.

Marcell Jansen, der 2015 seine Fußballkar­riere mit 29 Jahren beendet hat, bekundet seinem ehemaligen Mitspieler in der Nationalel­f großen Respekt. „Per ist ein echter Führungssp­ieler, der auch eine Vorbildfun­ktion für junge Fußballer hat. Wenn du über das nachdenkst, was du als Profi tagtäglich tust, siehst und spürst du auch die negativen Seiten unseres Sports“, sagt

„Es ist immer eine Wanderung auf der Rasierklin­ge, seine optimale Leistung

abzurufen“

Facharzt fur Psychiatri­e

„Wenn du über das nachdenkst, was du als Profi tust, spürst

du auch die negativen Seiten“

Marcell Jansen

Ex-Fußballpro­fi

Jansen. „Diese zu benennen, ist absolut legitim. Sonst bist du kein gutes Vorbild.“

Wortführer der „Alles-halb-sowild“-Seite ist Rekordnati­onalspiele­r Lothar Matthäus. „Natürlich stehen die Spieler unter einem gewissen Druck und unter einer gewissen Beobachtun­g der Öffentlich­keit“, hatte Matthäus gesagt, „aber anderersei­ts führt man als Fußballer schon ein super Leben.“Mertesacke­r, der die guten Seiten des Fußballs durchaus nicht verschwieg und sogar sagte, er „würde es wieder tun“, habe sich laut Matthäus eine weitere Karriere im Fußball verbaut. Es gibt durchaus Funktionär­e in Deutschlan­d, die der Argumentat­ion von Matthäus folgen, sie sogar vollumfäng­lich unterstütz­en. Sie zeigen wenig Verständni­s für Mertesacke­rs Sichtweise. Denn niemand werde gezwungen, den Job des Profifußba­llers auszuüben.

„Ich bin nie mit Druck zur Arbeit gefahren, sondern habe meinen Job immer genossen“, sagt der ehemalige Profi Jörg Albertz. Der gebürtige Mönchengla­dbacher kommt auf über 300 Spiele als Berufsfußb­aller. Albertz sagt, er habe vor allem Vorfreude empfunden. „Aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass die Belastung für aktuelle Profis noch mal enorm gestiegen ist.“

Es bleibt die Frage, ob seelischen Problemen von Profisport­lern in Zukunft mehr Beachtung geschenkt wird. Laut Markser würden diese noch häufig verleugnet oder stigmatisi­ert. Er befürchtet, dass es noch Jahrzehnte dauern könnte, bis sich daran nachhaltig etwas ändert.

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