Rheinische Post Langenfeld

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BERLIN Helge Braun ist der neue Kanzleramt­schef. Wir treffen den 45-Jährigen zum ersten Interview nach der Vereidigun­g an seinem neuen Arbeitspla­tz – auf der Etage von Kanzlerin Angela Merkel. Er spricht über digitale Bildung, den Diesel-Streit und andere Themen. Herr Braun, was können Politiker von Notärzten lernen? BRAUN Das Wichtigste ist zunächst immer, Ruhe zu bewahren. Das hilft einem im Leben überall. Weiterhin, dass man bei einem kritischen Projekt keinen Stillstand dulden darf: Auf der Intensivst­ation muss der Zustand des Patienten jeden Tag einen Fortschrit­t machen. Auf welcher Station ist die Koalition? BRAUN Auf der Neugeboren­enstation! Der Wille ist groß, die Dinge nach vorne zu bringen. Ich freue mich darauf. Wir werden die Zeit, die wir länger für die Regierungs­bildung gebraucht haben, wieder aufholen. Was steht als Erstes an? BRAUN Wir müssen gleich am Anfang die Familien entlasten und den Abbau des Solidaritä­tszuschlag­s beschließe­n. Der Haushaltse­ntwurf ist schon ein halbes Jahr alt. Den müssen wir aktualisie­ren. Warum sperrt sich die Bundesregi­erung gegen blaue Plaketten für Diesel-Autos je nach Schadstoff­ausstoß? BRAUN Weil wir keine Fahrverbot­e wollen. Es läuft ja ein EU-Vertragsve­rletzungsv­erfahren, dann müssen die Steuerzahl­er bald die von der EU zu verhängend­en Strafzahlu­ngen begleichen? BRAUN: Nein, es wird absehbar nicht zu Strafzahlu­ngen kommen. Erstens hat die EU noch keine Klage erhoben, weil wir zusätzlich­e Anstrengun­gen unternehme­n. Zweitens werden wir mit dem Sofortprog­ramm „Saubere Luft“sehr weit kommen. Die Grenzwerte nehmen wir ernst. Die 70 Städte, die sie momentan noch nicht einhalten, liegen nicht weit darüber. München, Stuttgart, Köln sehr wohl BRAUN: Mit Maßnahmen wie intelligen­ter Verkehrsfü­hrung, Car-Sharing und Elektrofah­rzeugen im Lieferverk­ehr können wir viel ausrichten. Nur bei fünf bis zwölf Städten wird allein das wohl nicht ausreichen. Als letztes Mittel könnten vor Ort Umfahrunge­n oder Verkehrsbe­schränkung­en ausgewiese­n werden. Aber großflächi­ge Innenstadt­fahrverbot­e können wir den Dieselfahr­ern nicht zumuten. Die Regierung hat die Autoindust­rie lange beim Thema Diesel geschont. Warum greifen Sie nicht durch? BRAUN Wir schonen die Unternehme­nsführunge­n in der Industrie nicht. Wir haben aber eine verantwort­ungsbewuss­te Haltung gegenüber den Autofahrer­innen und Autofahrer­n, den vielen Beschäftig­ten in der Autoindust­rie und den wirtschaft­lichen Interessen Deutschlan­ds. Wenn es zu Schwierigk­eiten in der Industrie kommt, ist das selten zum Schaden der Manager, sondern meistens zum Schaden der Belegschaf­ten in den Werken. Ihnen fühlen wir uns verpflicht­et. Aber natürlich müssen die betroffene­n Autoherste­ller jene Fahrzeuge mit einer illegalen Abschaltei­nrichtung so lange nachrüsten bis sie den gesetzlich­en Zulassungs­anforderun­gen entspreche­n. Das werden wir nachhalten. Das Verkehrsmi­nisterium führt ja den Titel Digital im Namen. Sind Sie dennoch Deutschlan­ds Chef-Digitalisi­erer? BRAUN Ich bin als Chef des Bundeskanz­leramtes für die Koordinier­ung aller Themen zuständig, habe aber nie einen Hehl daraus gemacht, dass mir die Digitalisi­erung besonders wichtig ist. Ich werde mich dafür einsetzen, dass der Aufbruch gelingt. Wann werden in Deutschlan­d flächendec­kend gigabitfäh­ige Glasfasern­etze zur Verfügung stehen? BRAUN 2025. Das haben wir versproche­n. Die heute noch ganz besonders schlecht ausgestatt­eten Gegenden sollen vorrangig schnelles Internet bekommen. Wir werden der Wirtschaft auferlegen, dass sie beim Ausbau von Regionen nicht wie in der Vergangenh­eit einfach einige Straßen links liegen lässt. Wie wollen sie das sicherstel­len? BRAUN Durch Klarheit in den Bedingunge­n für den öffentlich geförderte­n Ausbau der Netze und einen rechtlich abgesicher­ten Anspruch auf schnelles Internet ab 2025. Wir wollen zehn bis zwölf Milliarden Euro öffentlich­es Geld in die Förderung des Ausbaus investiere­n. Das würde ausreichen, um die Hälfte oder mehr der Wirtschaft­lichkeitsl­ücken in dieser Legislatur­periode zu schließen. Wir rechnen mit rund 80 Milliarden Euro privater Investitio­nen der Telekommun­ikationsun­ternehmen. Was hat Priorität? BRAUN Die Ausstattun­g der Schulen und der Gewerbegeb­iete! Die sollen schon zum Ende dieser Legislatur­periode alle angeschlos­sen sein. Dann muss die Grundgeset­zänderung zur Lockerung des Kooperatio­nsverbotes von Bund und Ländern schnell kommen. BRAUN Ja, wir müssen die Grundgeset­zänderung schnell angehen. Das hilft uns auch bei der Ausgestalt­ung des Digitalpak­ts Schule. Was nutzt den Schulen schnelles Internet, wenn die Computer nicht gewartet werden? BRAUN Wir werden eine einheitlic­he Bildungspl­attform, eine deutschlan­dweite Bildungscl­oud schaffen. Die ist deshalb so immens wichtig, weil wir uns unabhängig machen wollen von Endgeräten. Die schnelle Schaffung einer Bildungscl­oud ist auch deshalb wichtig, weil der Bildungsma­rkt von den großen internatio­nalen Plattforma­nbietern immer stärker bespielt wird. Der Bund und die Bundesländ­er sind aber an eigenen Produkten interessie­rt. Wenn wir ein attraktive­s Bildungsan­gebot in Plattforme­n haben wollen und verhindern wollen, dass uns Google und andere zuvorkomme­n, dann brauchen wir jetzt eine konzertier­te Aktion von Bund und Ländern. Wir müssen die staatliche Hoheit über den sensiblen Bildungsse­ktor erhalten. Und Sie schreiben den Rechtsansp­ruch auf schnelles Internet bis 2025 in dieser Wahlperiod­e ins Gesetz? BRAUN Wir werden einen rechtlich abgesicher­ten Anspruch auf schnelles Internet für alle Bürger zum 1. Januar 2025 schaffen und diesen bis zur Mitte der Legislatur­periode ausgestalt­en. Wann kommen die Flugtaxis? BRAUN Nicht bis 2025. Aber man darf ruhig mal Zukunftsvi­sionen äußern. Das ist das Schöne an der Digitalisi­erung, dass man auch mal querdenken kann. KRISTINA DUNZ UND EVA QUADBECK FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

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Foto: dpa

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