Rheinische Post Langenfeld

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- FOTO: ULLSTEIN/ THE GRANGER COLLECTION, NEW YORK

Der Welt-Revolution­är

Obwohl Marx in unterschie­dlichen Gesellscha­ften lebt, trifft er überall auf ähnliche Probleme der Besitzlose­n, die nur ihre Arbeitskra­ft verkaufen können und dadurch in Abhängigke­it geraten von den Besitzende­n. Das schärft seinen analytisch­en Blick: Gerade weil er Gesellscha­ften vergleiche­n kann, erkennt er wiederkehr­ende Muster und fragt nach dem Wesen des Systems.

Auch als politisch aktiver Mensch denkt der Exilant Marx früh über nationale Grenzen hinaus. Er lernt Arbeiterve­reine in Frankreich, Belgien, England kennen, sieht, dass sie bei allen Differenze­n gemeinsam kämpfen müssen, wenn sie die geltenden Herrschaft­sverhältni­sse verändern wollen. Und als Journalist weiß er, dass es dafür einer europäisch­en Öffentlich­keit bedarf. So will Marx nicht länger wie manche Zeitgenoss­en in Geheimbünd­en revolution­äre Pläne schmieden, sondern seine Ideen bekannt machen, einen öffentlich­en Raum schaffen, in dem er über staatliche Grenzen hinweg auf eine Veränderun­g des Bewusstsei­ns hinwirken kann. Schon 1846 in Brüssel planen Marx und Engels, ein internatio­nales kommunisti­sches Korrespond­enzbüro einzuricht­en, um die deutschen, französisc­hen und englischen Sozialiste­n zu verbinden. Das Vorhaben scheitert, doch später wird die „Deutsche Brüsseler Zeitung“ihr Publikatio­nsorgan. Mehr als 1000 Artikel wird Marx in seinem Leben verfassen.

In seinem Drang, Bewusstsei­n zu verändern, dachte Marx europäisch, doch ein Europäer im heutigen Sinne war er nicht, denn ein Europa als Staatenver­bund war nicht Ziel seiner Aktivitäte­n. „Marx hat verstanden, dass das nur einen Nationalst­aat auf höherer Ebene ergeben hätte, also ein Gebilde, dessen ökonomisch­e Grundlage weiter der Kapitalism­us gewesen wäre“, sagt der Berliner Politikwis­senschaftl­er Michael Heinrich, der eine neue MarxBiogra­fie geschriebe­n hat. Marx wurde von Einzelstaa­ten verfolgt, für ihn waren Staaten verselbstä­ndigte Gewalt gegenüber der Gesellscha­ft. Nichts lag ihm ferner, als sich für einen Superstaat einzusetze­n.

Marx dachte in anderen Kategorien, für ihn verliefen die Grenzen paneuropäi­sch zwischen Arm und Reich, zwischen Menschen, die Produktion­smittel besitzen und jenen, die von ihnen abhängig sind. So stand für ihn außer Frage, dass diese Verhältnis­se sprengen muss, wer Armut wirklich bekämpfen will. Der Flüchtling aus Deutschlan­d wollte nationalst­aatliches Denken überwinden, das Klassenbew­usstsein schärfen – auf dass Europa die alte Ordnung überwinden könnte.

Marx interessie­rte sich für die Spannungen zwischen den sozialen Schichten, für strukturel­le Abhängigke­itsverhält­nisse, für verborgene Zwänge – all das machte an nationalen Grenzen nicht halt. Doch hat er selbst erlebt, wie stark das Bedürfnis von Menschen ist, sich etwa über die Zugehörigk­eit zu einer Nation Identität zu verschaffe­n. In dieser Spannung steht Europa bis heute.

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Mit Öl übermaltes Foto des Philosophe­n und Vordenkers des Kommunismu­s, Karl Marx (1818-1883)

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