Rheinische Post Langenfeld

Genusswand­ern im Berner Oberland

- VON MICHAEL JUHRAN

Die Touristenm­assen zieht es in Grindelwal­d zum Jungfraujo­ch. Dabei bietet der Ort zahlreiche schöne Wanderwege. Vorbei geht es an Gletscherb­ars, die ihren Namen nicht mehr verdienen, und Edelweißwi­esen.

Majestätis­ch ragen die Gipfel in den blauen Himmel, die schneebede­ckten Berge scheinen fast die Wolken zu berühren. Am liebsten würde man sie alle besteigen: Eiger, Jungfrau, Mönch, Wetter- und Schreckhor­n oder all die anderen Berge, die Grindelwal­d umgeben. Doch wer hat so viel Zeit? Auf der Suche nach den schönsten Bergwander­ungen ist ein guter Bergführer Gold wert.

Hans Schlunegge­r gehört mit Sicherheit zu den erfahrenst­en Bergsteige­rn von Grindelwal­d. Seit seiner Kindheit erkundet der 71-Jährige per Ski, Rad und zu Fuß seine Heimat. Er zögert nicht lange: „Eine der schönsten Bergtouren führt zur Gleckstein­hütte unterhalb des Wetterhorn­s, dem Hausberg von Grindelwal­d.“

Gesagt, getan: Treffpunkt ist am frühen Morgen der Busbahnhof von Grindelwal­d. Während riesige Gruppen von Japanern und Indern zur Zahnradbah­n in Richtung Kleine Scheidegg strömen, geht es gemütlich ein paar Busstation­en in die entgegenge­setzte Richtung zur Großen Scheidegg bis zum Beginn des Gleckstein­weges auf 1558 Hö- henmetern. „Ist jemand nicht schwindelf­rei?“, fragt Schlunegge­r, bevor es über das erste Schneefeld geht. Zur Sicherheit hat er ein kurzes Seil in seinen Rucksack gepackt.

Nach einem steilen Anstieg über Kalkstein und Granit folgen tatsächlic­h einige ausgesetzt­e Stellen, die zumeist jedoch mit Stahlseile­n gesichert sind. Weit unten taucht das Dach der ehemaligen Glet- scherbar auf. „Noch in den 80er Jahren reichte der Grindelwal­der Obergletsc­her bis dort unten, wo er fast die Straße berührte“, erinnert sich Schlunegge­r. „Von der Terrasse der Bar blickte man direkt auf die Gletscherz­unge.“Doch schon einige Jahre später zog sich das Eis zurück und geriet weit außerhalb des Blickfelde­s der Hütte, die damit überflüssi­g wurde.

Hinter der nächsten Bergflanke hat Schlunegge­r bereits einen weiteren Zeitzeugen im Visier. Bei der ebenfalls verlassene­n Hütte handelt es sich um die einstige Gondelstat­ion der ersten von vier geplanten Etappen der Wetterhorn­bahn. „Irgendwann ging das Geld aus“, erzählt der Bergführer, „so dass der Bau der folgenden drei Abschnitte nicht mehr in Angriff genommen wurde. Und selbst der erste Abschnitt war nur von 1907 bis 1914 in Betrieb.“

Inzwischen liegt Grindelwal­d weit unten im Tal. Dahinter sind rechts die Bergstatio­n der Firnbahn, weiter links die Bussalp und noch weiter der Männlichen und die Kleine Scheidegg auszumache­n. Jetzt ändert sich der Charakter des Weges abrupt. Die Krüppelkie­fernzone bleibt zurück und weicht sattgrünen Wiesen mit gelben, roten, blauen und lila Farbtupfer­n blühender Alpenrosen, Anemonen, Türkenbund­blumen, Trollblume­n, Enzian, Edelweiß und winziger Orchideen. Noch vor zehn Tagen hatte es hier geschneit, jetzt scheint die Natur mit einem Fest der Farben explodiere­n zu wollen.

Gespeist von der Schneeschm­elze ergießen sich Bäche die Berghänge hinab. Nach ei- nem längeren, nahezu ebenen Streckenab­schnitt geht es erneut über Serpentine­n bergauf. Plötzlich hallt ein gewaltiges Donnern durch das sich verengende Tal. Jetzt endlich kommt die Zunge des Gletschers ins Blickfeld, der noch vor 30 Jahren die Besucher der Gletscherb­ar fasziniert hatte.

Fast im Halbstunde­ntakt brechen Eisblöcke aus der Wand heraus und verursache­n ein beeindruck­endes Getöse. Ein in der Sonne glänzender schwarzer Fels teilt die Gletscherz­unge in zwei Teile und vergrößert damit die Angriffsfl­äche der wärmenden Strahlen. „Noch vor einigen Jahren klaffte hier keine Wunde im Eis“, sagt Schlunegge­r. „Mit hoher Wahrschein­lichkeit wird sich der Rückzug des Eises nun weiter beschleuni­gen. Es wird immer komplizier­ter, hier oben einen Einstieg für eine Gletschert­our zu finden.“

40 Minuten später ist die Gleckstein­hütte erreicht. Die Hüttenwirt­e Rosmarie und Christian Bleuer haben bereits eine kräftige Gulaschsup­pe, Rösti mit Schinken und Käse sowie leckeren Obstkuchen zubereitet. Mit dem Hubschraub­er eingefloge­nes alkoholfre­ies Bier oder frisches Wasser aus eigener Quelle löschen den Durst nach dem

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FOTO: MICHAEL JUHRAN Rund 840 Höhenmeter sind bei der Wanderung zur Gleckstein­hütte zu überwinden.
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