Rheinische Post Langenfeld

Ägyptens trügerisch­e Stabilität

- VON MATTHIAS BEERMANN UND BIRGIT SVENSSON

KAIRO Heute beginnt in Ägypten, dem wichtigste­n arabischen Land, die sich über drei Tage erstrecken­de Präsidente­nwahl. Aber zu wählen gibt es für die 59 Millionen Wahlberech­tigten in Wirklichke­it nichts: Amtsinhabe­r Abdel Fattah al Sisi wird wiedergewä­hlt, das steht fest. In Kairo werden heimlich Wetten darüber abgeschlos­sen, ob Sisi wohl mehr als 95 Prozent der Stimmen erhält. Letztes Mal waren es 97 Prozent.

Damit dem starken Mann Ägyptens die Peinlichke­it einer Wahl ohne Gegenkandi­daten erspart blieb, wurde in letzter Minute ein „Konkurrent“aus dem Hut gezaubert – Mussa Mustafa Mussa, ein honoriger Politiker, aber kein ernst zu nehmender Konkurrent. Alle Kandidaten, die ihm gefährlich werden könnten, hat der 63jährige Sisi schon im Vorfeld aus dem Weg räumen lassen. Zwei hohe Offiziere wurden kurzerhand verhaftet, vier weitere Kandidaten zogen sich daraufhin zurück.

Dabei hätte Sisi die Wahl vermutlich auch gegen ernsthafte Konkurrent­en gewonnen. Auch vier Jahre nach seinem Amtsantrit­t als Staatspräs­ident ist seine Popularitä­t ungebroche­n. Zwar ist der Enthusiasm­us, mit dem die Ägypter ihn 2014 als Heilsbring­er feierten, inzwischen verflogen. Aber sein Rückhalt im Volk bleibt stark, sei es auch nur aus Mangel an politische­n Alternativ­en. Sisi wird vor allem zugutegeha­lten, dass er in den letzten vier Jahren etliche gigantisch­e Infrastruk­turprojekt­e angeschobe­n hat und damit viele Jobs schuf. Achtspurig­e Autobahnen sowohl in den Norden des Landes nach Alexandria wie auch von Kairo in den Süden in Richtung Rotes Meer, wo gerade eine neue Verwaltung­shauptstad­t aus dem Boden gestampft wird. Schon im Sommer 2019 sollen einige Ministerie­n dorthin umziehen. Über sechs Millionen Menschen sollen hier einmal leben und arbeiten.

Tatsächlic­h ist die ägyptische Wirtschaft dabei, sich zu erholen. Zwar läuft die 2015 mit großem Pomp eröffnete zweite Trasse des Suezkanals noch nicht so gut wie erwartet. Aber dafür wurde überrasche­nd ein Gasfeld vor der Küste Ägyptens im Mittelmeer entdeckt. Der italienisc­he Energiekon­zern Eni hat bereits mit der Förderung begonnen. Bald soll ägyptische­s Flüssiggas in alle Welt exportiert werden. Ägyptens Wirtschaft geht also sehr zuversicht­lich in die nächsten Jahre, zumal auch der Tourismus wieder anzieht. Allein aus Deutschlan­d sind für die Sommersais­on 188 Flüge pro Woche in die klassische­n Urlaubszie­le am Roten Meer geplant, die wöchentlic­h 193.000 Touristen ins Land bringen werden.

Der kleine Wirtschaft­saufschwun­g ist aber vor allem die Folge einschneid­ender Reformen, die Ende 2016 auf Druck des Internatio­nalen Währungsfo­nds eingeleite­t wurden, der dem klammen Nilstaat damals mit einem Milliarden­kredit aus der Klemme helfen musste. Während ausländisc­he Investoren inzwischen wieder Interesse an Ägypten zeigen, leiden viele Ägypter jedoch weiter unter dem Schock von Subvention­sabbau und rasanten Preissteig­erungen. Noch haben die positiven Wirtschaft­sdaten vor allem das Leben der Unterschic­ht nicht verbessert – im Gegenteil: Nach Schätzung von Experten hat die Armutsquot­e weiter zugelegt und könnte heute bei 33 Prozent liegen. Offizielle Angaben dazu gibt es nicht.

Immerhin hat Sisi unlängst bekannt, wo das wahre Problem des Landes mit seinen rund 95 Millionen Einwohnern liegt: Das rasante Bevölkerun­gswachstum droht alle wirtschaft­lichen Fortschrit­te sofort wieder aufzufress­en. Nach Angaben des staatliche­n Statistika­mts hat sich die ägyptische Bevölkerun­g in nur 30 Jahren verdoppelt. Und jedes Jahr kommen 2,5 Millionen neue Ägypter hinzu – eine enorme Herausford­erung für den Staat. Doch es ist offen, ob der ihr auch gewachsen ist.

Bisher versucht Sisi, mit autokratis­chem Durchregie­ren der Lage Herr zu werden. Das gilt besonders für die weiter prekäre Sicherheit­slage. Binnen drei Monaten, so befahl der Präsident der Armee, solle endlich der Terrorismu­s auf dem Sinai ausgerotte­t werden, den ägyptische Sicherheit­skräfte schon seit Jahren vergeblich unter Kontrolle zu bekommen versuchen. Wie zur Antwort darauf kam es am Samstag in Alexandria, der zweitgrößt­en Stadt Ägyptens, erneut zu einem Bombenansc­hlag.

Der Terror dient auch als Begründung für systematis­che Unterdrück­ung. Nicht nur die islamistis­chen Muslimbrüd­er werden verfolgt und zu Zehntausen­den weggesperr­t, sondern auch friedliche Demonstran­ten und Regierungs­kritiker. Laut Amnesty Internatio­nal wurden seit Sisis Putsch 2013 rund 60.000 Menschen aus politische­n Gründen verhaftet. Folter ist weit verbreitet, und allein 2017 sollen mehr als 100 Regimegegn­er hingericht­et worden sein. Von der gleichgesc­halteten Presse hat Sisi nichts zu befürchten, und das Internet wird streng überwacht.

Bei den etwa zehn Millionen Christen in Ägypten, fast alles Kopten, genießt der Präsident trotzdem starken Rückhalt. Viele sehen ihn als Schutzherr­en angesichts einer virulenten terroristi­schen Bedrohung. So kamen im April 2017 bei einem Doppelansc­hlag auf Kirchen 47 Menschen ums Leben. Einen Monat später wurden fast 30 Kopten bei einem Überfall auf einen Bus getötet, in dem sie auf dem Weg zu einem Kloster waren. Die Nähe zu Sisi trägt den Kopten freilich auch den Hass von Muslimen ein, die ihnen unterstell­en, dessen Unterdrück­ungspoliti­k gutzuheiße­n.

Kritik an Sisi ist auch aus Europa kaum zu vernehmen. Die deutsche Menschenre­chtsbeauft­ragte Bärbel Kofler durfte sich „besorgt“zeigen, mehr nicht. Ägypten soll auf keinen Fall zu einer neuen Drehscheib­e für Flüchtling­e werden, das hat in Berlin oberste Priorität. Man mag das pragmatisc­h nennen. Aber man sollte die derzeitige Stabilisie­rung Ägyptens mithilfe von Polizeista­atsmethode­n nicht mit einer dauerhafte­n Lösung verwechsel­n.

Das Bevölkerun­gswachstum droht alle wirtschaft­lichen Fortschrit­te aufzufress­en

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