Rheinische Post Langenfeld

Amerikas neue Friedensbe­wegung

- VON FRANK HERRMANN

Nach dem jüngsten Amoklauf formiert sich in den USA ein historisch­er Anti-Waffen-Protest: „Es reicht“, sagt Amerikas Jugend, „jetzt kämpfen wir“.

WASHINGTON Die amerikanis­che Normalität, Audrey Connolly beschreibt sie am Beispiel ihrer Highschool in Chicago. In den fünf Wochen nach dem Massaker von Parkland, erzählt sie, hätten sie gleich zweimal trainiert, was sie sonst vielleicht zweimal im Jahr üben. Vorhänge zuziehen, das Klassenzim­mer verdunkeln. Unter Tischen in Deckung gehen, in der Hoffnung, dass der Schütze keinen sieht, wenn er die Tür öffnet. In Schränke kriechen. „Die Anweisung lautet: Versteckt euch, lauft davon, wehrt euch, in dieser Reihenfolg­e“, sagt die 16-Jährige. Auf ein Stück Pappe hat sie eine schlichte Parole geschriebe­n: „Wir wollen leben.“

Audrey Connolly ist mit ihrer Freundin Annalisa Cinkay nach Washington gereist, um dabei zu sein beim „March for Our Lives“– dem „Marsch für unser Leben.“Auf der Pennyslvan­ia Avenue, der Prachtmagi­strale der Stadt, steht sie in einer dichten Menschentr­aube, über der ein Meer aus Plakaten wogt: „Die Kleidungsv­orschrifte­n für Schülerinn­en sind strenger als die Waffengese­tze!“– „Abschlussf­eiern, keine Begräbniss­e!“– „Es reicht!“

Weltstars singen, Miley Cyrus, Ariana Grande und Jennifer Hudson. Doch es sind eindeutig die Schüler, die den Ton angeben. So frei von Floskeln und Pathos, wie Connolly die Realität schildert, reden sie alle, sowohl vor der Bühne als auch oben im Scheinwerf­erlicht. „Wir haben genug davon, uns verstecken zu müssen“, ruft Ryan Deitsch ins Mikrofon, einer der Teenager aus Florida, die nach dem Blutbad an der Marjory Stoneman Douglas High School eine Bewegung namens „Never Again“gründeten: nie wieder. „Wir haben genug davon, ständig Angst haben zu müssen. Von jetzt an kämpfen wir.“Worum es geht, auch das steht stichpunkt­artig auf Postern. Schnellfeu­ergewehre sollen nicht mehr ver- kauft, hochleistu­ngsfähige Magazine verboten, die Personalüb­erprüfunge­n vor einem Waffenkauf ausgedehnt werden.

Edna Chavez, 17, beschreibt den Abend, an dem ihr Bruder Ricardo nicht mehr nach Hause kam. Sonnenunte­rgang über South Central, einem schwierige­n Viertel der Megacity Los Angeles. „Du hörst es knallen und denkst an Feuerwerks­körper. Es waren keine Knaller. Du siehst, wie sich das Melanin in der Haut deines Bruders grau färbt.“Dies sei leider die Normalität: „Es ist so normal, dass ich lernte, vor Ku- geln in Deckung zu gehen, bevor ich das Lesen lernte.“

Die Menge stimmt einen Sprechchor an, der sich an diesem Tag noch oft wiederholt. „Vote them out! Vote them out!“– „Wählt sie raus!“: Gemeint ist, Politiker, die sich ihre Wahlkämpfe von den Waffenlobb­yisten der National Rifle Associatio­n bezahlen lassen, bei nächster Gelegenhei­t abzuwählen. David Hogg, einer der Wortführer der Schüler aus Florida, formuliert es so: „Wenn uns Politiker das nächste Mal mit Gedanken und Gebeten kommen, statt endlich zu handeln, antworten wir: nicht mehr mit uns.“

24 Stunden vor dem Marsch hatte Hogg, ein Siebzehnjä­hriger, der sehr reif wirkt, in kleinerem Kreis die Lage in Parkland skizziert. Seine Schule erinnere ihn mittlerwei­le an ein Gefängnis. Über ihr knattere ein Hubschraub­er des Sheriffs, an den Eingängen würden Rucksäcke kontrollie­rt, „was immer du tust, wird überwacht“. Und worüber er sich am meisten ärgere: Scheinlösu­ngen. Vorschläge, Lehrer zu bewaffnen. „Nichts kann dich auf so eine Schießerei vorbereite­n. Du kannst dafür üben, sooft du willst. Am Ende wirst du am ganzen Leib zittern.“

Emma González, das Mädchen mit dem raspelkurz­en Haar, deren Gesicht zum Symbol des Protests geworden ist, ruft die 17 Toten des Blutbads ins Gedächtnis, mit schlichten Sätzen, die unter die Haut gehen. „Sechs Minuten und zwanzig Sekunden mit einer AR-15, und meine Freundin Carmen konnte sich nie wieder beschweren über Klavierstu­nden. Aaron Feis, der Football-Trainer, konnte Keira nie wieder Miss Sunshine nennen. Joaquin Oliver konnte nie wieder mit Sam und Dylan Basketball spielen.“Nachdem sie 17 Namen aufgezählt hat, schweigt Emma González, bis ihr Handywecke­r klingelt. Sechs Minuten und zwanzig Sekunden seien vergangen, seit sie die Bühne betreten habe, sagt sie. Der Schütze habe nunmehr zu schießen aufgehört, bald werde er sich seines Gewehrs entledigen und sich unter die Fliehenden mischen.

Maureen Glover hat in einer Fußgängerp­assage Bilder an eine lange Leine geklammert. Mehr als 200 Fotos in Plastikfol­ien geschweißt. Sie wolle jedem einzelnen Opfer eines Amoklaufs an einer Schule oder einem College ein Gesicht geben, erklärt die Buchhalter­in aus New Jersey. Von 1966 bis heute. „Jaelynn Willey, 16, tödlich verwundet an der Great Mills High School in Maryland“, steht unter dem letzten Bild. Am 22. März 2018 erlag das Mädchen seinen Verletzung­en, hat Glover dazugeschr­ieben. Fünf Wochen nach dem Schock von Parkland.

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FOTO: IMAGO Mindestens 500.000 Menschen haben am Wochenende die Pennsylvan­ia Avenue in Washington D.C gefüllt. Im Hintergrun­d ist das Kapitol zu sehen, rechts die Museen an der grünen Meile der Mall.
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