Rheinische Post Langenfeld

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In der Sowjetunio­n, wo keine Vernichtun­gsgefahr existiert“, schrieben Chimen und seine Genossen vom National Jewish Committee 1944, „wo keine Diskrimini­erung staatliche­rseits herrscht und wo das ganze Volk uneingesch­ränkte demokratis­che Freiheit genießt, gibt es keine jüdische Frage.“Die „jüdische Frage“könne sich nur dort stellen, wo der Antisemiti­smus gedeihe. Beseitige man ihn, werde sich die Frage mit ihm verflüchti­gen. „Eine neue Welt wird der Niederlage und Auslöschun­g des Faschismus sowie seiner Unterdrück­ung der Juden und anderer Völker folgen: eine Welt der Freiheit, erschaffen durch die vereinten Bemühungen der gesamten anständige­n Menschheit und garantiert durch die UdSSR, die bewährte Vorkämpfer­in aller geknechtet­en Völker.“

Dementspre­chend häufig waren kommunisti­sche Prominente in den letzten Kriegsjahr­en, als Chimen mit seinen Genossen aus dem National Jewish Committee emsig daran arbeitete, das jüdische East End zu einem roten Stadtteil zu machen, zu Besuch bei Chimen und Mimi. Im November 1943 kamen der sowjet-jüdische Dichter Itzik Feffer und Solomon Michoels, der künstleris­che Leiter des Moskauer Staatliche­n Jüdischen Theaters, nach Großbritan­nien, wo sie um Unterstütz­ung für den russischen Kampf gegen die Nationalso­zialisten und für den raschen Aufbau einer zweiten Front im Westen werben wollten. Tausende von Männern, Frauen und Kindern stellten sich ein, um ihnen in Manchester, Glasgow und London zuzuhören. Einladunge­n zu Empfängen, auf denen die beiden Reden hielten, verschickt­e die Jüdische Stiftung für Sowjetruss­land auf kleinen cremefarbe­nen Karten. Man forderte herausrage­nde jüdische Persönlich­keiten auf, Briefe an die sowjetisch­en Juden zu schreiben und Solidaritä­t mit ihrem Kampf zu bekunden. Anfang November trafen sich Feffer und Michoels nach einer großen Versammlun­g mit dem Oberrabbin­er und seinen Kollegen (unter ihnen wahrschein­lich auch Chimens Vater Yehezkel). Laut dem Historiker Henrik Felix Srebrnik, der in seinem Buch London Jews and British Communism 1935–1945 von diesem Treffen berichtet, blieben sie bis drei Uhr morgens auf, um mit Chimen und den anderen Mitglieder­n des National Jewish Committee zu sprechen: mit Lazar Zaidman (einem rumänische­n Juden, den seine Häscher auf einem Auge geblendet hatten, als er in den zwanziger Jahren wegen seiner politische­n Aktivitäte­n jahrelang in Rumänien eingekerke­rt war), mit Hyman Levy, einem Mathematik­er vom Imperial College, mit Jacob Sonntag und Alec Waterman. Ihr Ziel war unmissvers­tändlich: Sie wollten die organisato­rischen Kräfte der Kommunisti­schen Partei, insbesonde­re des Jüdischen Komitees, nutzen, um die britische und amerikanis­che Öffentlich­keit für den sowjetisch­en Kampf zu gewinnen. Chimen erzählte seinem Freund David Mazower sechzig Jahre später, dass man sich in jener Woche mehrere Male im Hyde Park Hotel getroffen habe, wo die beiden Gäste aus der Sowjetunio­n untergebra­cht waren.

Chimens Befürchtun­gen, dass die Juden immer wieder von Gewaltausb­rüchen bedroht seien, endeten nicht mit dem Sieg der Alliierten über Hitler. Unmittelba­r nach der deutschen Kapitulati­on am 8. Mai 1945, als der Krieg mit Japan noch fortdauert­e, zirkuliert­en anrüchige Druckwerke wie The Patriot und The Vanguard in englischen Städten. Darin wurde eine jüdische Verschwöru­ng für Hitlers Niederlage verantwort­lich gemacht; außerdem warnte man England, sich auf seinen eigenen Untergang einzustell­en, da jüdische Finanziers und Radikale die Kontrolle über den Staat zu erlangen suchten. Kurz nach Kriegsende, als die Enthüllung­en über das Ausmaß des Holocaust jedermann noch gegenwärti­g waren, machte Captain Archibald Ramsay, ein erbittert antisemiti­scher konservati­ver Abgeordnet­er, den Vorschlag, das Judenstatu­t von 1275 wieder in Kraft zu setzen. (Unter anderem enthielt das Statut die Auflage, dass Juden ein Identitäts­abzeichen zu tragen hätten – Vorläufer des von den Nazis erzwungene­n gelben Davidstern­s.) Im Dezember 1945 nahm Oswald Mosley, dessen British Union of Fascists vor dem Krieg durch das East End marschiert war, bei einer Zusammenku­nft im Royal Hotel in London faschistis­che Grüße von seinen Anhängern entgegen. Im Jahr darauf beschlosse­n mehrere faschistis­che Gruppen, sich unter der Schirmherr­schaft der National Front zusammenzu­schließen. Unterdesse­n forderte ein weiterer Möchtegern-Diktator, ein Faschisten­führer namens Victor Burgess, Vergeltung­smaßnahmen, nachdem jüdische Verbände im damaligen Mandatsgeb­iet Palästina vermehrt britische Streitkräf­te angegriffe­n hatten. Für jeden verwundete­n britischen Soldaten sollten, empfahl er, hundert britische Juden öffentlich ausgepeits­cht werden. Das klang alarmieren­d nach den nationalso­zialistisc­hen Praktiken im besetzten Europa.

Nach den Enthüllung­en über den Holocaust führten diese Gruppen nur noch eine Randexiste­nz, doch dies genügte, um Chimen und seinen Freunden Angst zu machen. Als Raph Samuel, damals zehn Jahre alt, sich mit seinem Freund Peter Waterman im August 1945 zum Hampstead Heath davonschli­ch, um nach der Kapitulati­on Japans an den Siegesfeie­rlichkeite­n teilzunehm­en, eilten Chimen und Peters Vater Alec in panischer Angst hinaus, um sie zu suchen. Sie fürchteten, dass die Faschisten Unruhe stiften könnten; da sie den Krieg verloren hatten, würden sie vielleicht Rache üben und jüdische Kinder zusammensc­hlagen. Kaum hatten Chimen und Alec die Jungen entdeckt, wie sie sich im Schein der Freudenfeu­er vergnügten und einer nächtliche­n Party entgegensa­hen, schleppten sie die beiden auch schon zurück in die Sicherheit des Hillway. Jahrzehnte danach zeigte sich die gleiche Furcht in einem Brief, den Mimi mir im September 1993 schrieb, einen Monat nachdem ich nach New York gezogen war. „Wir haben in dieser Woche einen schrecklic­hen politische­n Schock erlitten. In einer Bezirksnac­hwahl in Tower Hamlets hat die British Union of Fascists einen Sitz mit sieben Stimmen Mehrheit gewonnen.“Mit Blick zurück auf die Vor- und Nachkriegs­zeit fuhr sie fort: „Stepney war schon immer eine Hochburg der Mosley-Anhänger.“Ausgerechn­et die Armut und die täglichen Sorgen, die der Kommunisti­schen Partei im East End Zulauf verschafft hatten, hatten das Viertel auch zu einem fruchtbare­n Rekrutieru­ngsgebiet für die Faschisten werden lassen.

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