Der ferne Nachbar
DÜSSELDORF „Hallo Sohn, wie geht es im Moffenland?“Es ist eine WhatsappNachricht meines Vaters, in der ich „Mof“wieder lese, ein Schimpfwort für einen Deutschen. Angeblich geht es auf das deutsche Wort „muffig“zurück. Es ist schon lange her, dass ich es zuletzt gehört habe, und es klingt wie ein Echo aus einer fast schon vergessenen Vergangenheit. So nannten wir einen Deutschen, als ich, jetzt 36, ein Kind war. Ein Erbe des Krieges.
Früher war für uns alles sehr eindeutig. Wir Niederländer waren locker, „gezellig“. Wir waren bekannt für unsere Toleranz, Cannabis war erlaubt, und nirgendwo konnten Homosexuelle früher heiraten als bei uns. Wir hatten Johan Cruyff, Marco van Basten, Dennis Bergkamp – Zauberer am Ball. Gut, wir waren nur Zweiter bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1974. Aber was soll’s? Wir spielten abenteuerlicher als die Deutschen, waren technisch überlegen, oder? Und 1988 korrigierten wir den Schönheitsfehler von 1974: Europameister, in Westdeutschland. Ha!
Oh Gott, wir hatten so ein tolles Land. Deutschland war unser Erzfeind, in fast allem. Wir hassten die nervigen Fußballer wie Lothar Matthäus und Stefan Effenberg. Wir fanden uns viel geschmackvoller als die schlecht gekleideten, blondierten Männer, die Horst und Heinrich hießen und keinen Humor hatten. Wir ärgerten uns über die Deutschen in Seeland, die Löcher in den Sand gruben. Und wir fühlten uns moralisch überlegen.
Feindbilder sind reich an Klischees. Die Realität aber ist natürlich nicht schwarz-weiß, sondern vielschichtiger. Wir fühlten uns aber gut mit diesem Klischee. Schaut uns an, das „Kuschelländchen“, so viel attraktiver als der große unsympathische Nachbar.
Wie sich die Dinge ändern! Ich habe bereits das Schimpfwort „Mof“erwähnt, das inzwischen veraltet ist. Ge- nau wie der Witz über Opas Fahrrad, das die Deutschen noch zurückgeben müssen, weil Hitler es im Krieg konfisziert hat.
Im Jahr 2018 gilt Deutschland kaum mehr als unser großer, verhasster Rivale. Fußball könnte ein Ansporn sein, sich an alte Gefühle zu erinnern. Aber ja, der niederländische Fußball ... Würde unsere Mannschaft Samstagnacht eine deutsche Diskothek besuchen, niemand würde es bemerken.
Dass Ressentiments mit der Zeit verschwinden, ist logisch: Der Krieg endete vor mehr als 70 Jahren. Aber es gibt noch mehr Gründe, sagt Friso Wielenga, Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien in Münster: „Die Niederlande sind seit den 90er Jahren selbstkritischer geworden. Ihnen wurde klar, dass das eigene Verhalten im Krieg auch nicht so heldenhaft gewesen ist. Und die Kriegsverbrechen in Indonesien in den Jahren 1945 bis 1949 bekamen Aufmerksamkeit. Der Massenmord an Tausenden bosnischen Muslimen 1995 in Srebrenica, den die niederländischen Blauhelmsoldaten nicht verhindern konnten, war ein dunkles Kapitel. Und dann gab es den Aufstieg des Populismus.“
Mit anderen Worten: Wir waren plötzlich genug mit uns selbst beschäftigt. Den Drang, uns mahnend an unseren Nachbarn zu wenden, wie beim Brandanschlag mit rechtsextremem Hintergrund in Solingen im Jahr 1993, als Helmut Kohl aus den Niederlanden 1,2 Millionen Karten mit dem Text „Ich bin wütend“erhielt, gab es nicht mehr.
Wir lernten – auch das muss man sagen – die schönen Seiten Deutschlands kennen. Niederländische Familien genossen ihren Urlaub in den Wäldern und an den Seen. Die Jugendlichen entdeckten Berlin. 2007 überholte Deutschland Frankreich als beliebtestes Urlaubsland der Niederländer. Und vor 20 Jahren noch weniger vorstellbar: Oktoberfeste breiten sich nun auch bei uns aus.
Es ist bemerkenswert, dass ein so großes Land so wenig kulturellen Einfluss auf seinen
Nachbarn hat