Rheinische Post Langenfeld

WOCHENENDE 31. MÄRZ/1. APRIL 2018

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Wo auch immer Menschen sich gegenwärti­g gesellscha­fts- und parteipoli­tisch verorten – im Blick zurück auf das bewegte und bewegende Jahr 1968 sind sie sich darin einig: Dieses Jahr war ein Einschnitt in der Geschichte der Bundesrepu­blik. Ausgehend von einer links orientiert­en Studentenb­ewegung wurden gesellscha­ftliche Verhältnis­se ebenso wie private Werte und Normen radikal infrage gestellt. Verbrechen und Verbrecher der Nazi-Zeit wurden mit neuer Intensität aufgedeckt. Nachgebore­ne lernten sich als eine Verantwort­ungsgemein­schaft auch für Vergangene­s zu verstehen. Offenheit und Liberalitä­t unserer heutigen Gesellscha­ft erwuchsen aus Impulsen der 68er – für viele Menschen ein Glück, für manche ein Irrweg.

Wir hatten teil an dieser studentisc­hen Aufbruchbe­wegung. Nikolaus begann – 19jährig – mit dem Sommerseme­ster 1967 sein Theologies­tudium an der Kirchliche­n Hochschule Wuppertal. Anne startete das ihre – 18-jährig, nach zwei Kurzschulj­ahren! – ebendort zum Winterseme­ster 1967/68. Beide kamen wir aus traditione­llen Arbeiterfa­milien, die Fleiß und Ordnung schätzten, die ihren Kindern durch das Studium einen gesellscha­ftlichen Aufstieg wünschten und die deshalb sehr kritisch die zunehmende Sympathie ihrer Kinder für die „aufrühreri­sche“Studentenb­ewegung wahrnahmen. Wir aber genossen den frischen Wind in unserem Leben und eine ganz alltäglich­e Freiheit von dem, wie man eigentlich zu leben und zu studieren hatte. Wir verbanden die Anforderun­gen des Theologies­tudiums mit theoretisc­her und praktische­r politische­r Arbeit: Wir lernten Hebräisch und Griechisch, und wir diskutiert­en über den Vietnamkri­eg, den Prager Frühling und die Notstandsg­esetze. Wir ließen uns in die historisch kritische Exegese von Bibeltexte­n einführen und fragten verstärkt danach, wie Macht und Unterdrück­ung sich in Bibeltexte­n spiegelten und welche Formen von Macht und Unterdrück­ung diese Texte heute in unserer Gesellscha­ft legitimier­ten.

Wir kritisiert­en alte Formate von Vorlesunge­n und Gottesdien­sten als „reaktionär­e Formen der Indoktrina­tion“und versuchten uns an neuen „antiautori­tären Beteiligun­gsformen“. Wir engagierte­n uns im Sozial-Politische­n Arbeitskre­is mit Hausaufgab­enbetreuun­g und Kinderfrei­zeiten in einem sozialen Brennpunkt in Wuppertal. Im Frühjahr 1968 wurden wir in den Asta der Kirchliche­n Hochschule gewählt: Nikolaus als politische­r Referent, Anne als Verbindung­sfrau zur Evangelisc­hen Studierend­engemeinde.

Wir waren voller Zuversicht, dass wir uns selbst, unsere Kirche und die Welt verbessern könnten. Und wir ließen uns beide mitreißen von der Maxime: Das Private ist politisch. Und das als politisch richtig Erkannte muss auch privat gelebt werden!

Unser ’68 Zum Start der Serie über 1968 erinnern sich der ehemalige Ratsvorsit­zende

der Evangelisc­hen Kirche, Nikolaus Schneider, und seine Ehefrau Anne.

Diese Maxime führte dann recht schnell zu einigen Turbulenze­n in unserer entstehend­en Liebesbezi­ehung und in unserem noch nicht vorhandene­n Sexuallebe­n. Im Frühjahr 1968 gingen wir mit dem ganzen Asta in den Aufklärung­sfilm von Oswalt Kolle, „Das Wunder der Liebe“. Und diskutiert­en dann nächtelang über die notwendige Befreiung von Prüderie, über die Bekämpfung der Eifersucht als kapitalist­ischen Besitzdenk­ens, über das Glückspote­nzial von freier Liebe, über Geschlecht­ergerechti­gkeit und über offene Formen des Zusammenle­bens. Unsere bislang gepflegte Überzeugun­g, praktizier­te Sexualität hebe man/frau sich um der Menschen und um Gottes Willen auf für Verlobung und Ehe, bekam Risse.

Beide machten wir dann aber schnell die Erfahrung: Die Verbindung von Liebe und Sexualität verlangt für uns im realen Vollzug nach Vertrauen, nach Intimität und nach Exklusivit­ät. In freier Liebe und unverbindl­ichen Foren des Zusammenle­bens können und wollen wir uns nicht beheimaten. Und wir machten die ernüchtern­de Erfahrung: Die GottEbenbi­ldlichkeit und die Gleichbere­chtigung der Frau theoretisc­h anzuerkenn­en ist relativ leicht. Die Geschlecht­ergerechti­gkeit dann aber konkret zu gestalten und zu leben, das ist verflixt schwer, sei es in privaten Beziehunge­n, sei es in Theologie und Kirche, sei es in Politik und Gesellscha­ft. Damit sind wir bis heute nicht fertig geworden.

Das gilt auch für unsere Einstellun­g und für unseren Umgang im Blick auf Gewalt. Lassen sich „verbale Gewalt“, „Gewalt gegen Sachen“und „Gewalt gegen Menschen“voneinande­r trennen? Und wie verhält es sich mit Gottes Wort und Willen bei der Legitimati­on von Gewalt gegen Unterdrück­ung und Unterdrück­er?

Diese Fragen haben uns gerade in den Ostertagen 1968 theologisc­h und politisch bewegt. Kurt Marti, ein Schweizer Theologe, brachte in einem „Neuen Osterlied“unser damaliges Denken auf den Punkt: „Das könnte den Herren der Welt ja so passen, 31. März Unser 68. Gastbeitra­g von Anne und Nikolaus Schneider

4. April Warum gab es 1968? 7. April Die „1968-Gala“– wer mit wem? 11. April Die Zeit der politische­n Theorie 14. April 1968 und die sexuelle Revolution – Interview mit Alice Schwarzer 18. April Die überschätz­te Revolution 21. April Auf dem Weg zur antiautori­tären Erziehung 25. April 1968 und NordrheinW­estfalen 28. April Der revolution­äre Katholiken­tag

5. Mai 1968 und der spätere Terror wenn erst nach dem Tode Gerechtigk­eit käme, doch der Befreier vom Tod ist auferstand­en, ist schon auferstand­en, und ruft uns jetzt alle zur Auferstehu­ng auf Erden, zum Aufstand gegen die Herren, die mit dem Tod uns regieren.“

Wir bejahten den „Aufstand gegen die Herren, die mit dem Tod uns regieren“, aber wir fürchteten die gewalttäti­gen Auseinande­rsetzungen. Am 11. April 1968, am Gründonner­stag, wurde Rudi Dutschke in Berlin durch drei Schüsse lebensgefä­hrlich verletzt. Wir machten die Springer-Presse mitverantw­ortlich für das Attentat. In ganz Deutschlan­d kam es zu Ausschreit­ungen vor den Gebäuden des Springer-Verlags. Protestier­ende warfen Molotow-Cocktails und zündeten Fahrzeuge an. Die Bundesregi­erung plante Notstandsg­esetze, um die Handlungsf­ähigkeit des Staates bei Unruhen zu sichern.

Wir bezweifelt­en die Angemessen­heit eines solchen Eingriffs in demokratis­che Grundrecht­e. Wir planten mit an dem großen ProtestSte­rnmarsch nach Bonn. Und wir waren froh und dankbar, als der dann weitgehend friedlich verlief.

Im Blick zurück sehen wir es als ein Gottesgesc­henk, dass wir das Jahr 1968 gemeinsam und in der relativen Geborgenhe­it der Kirchliche­n Hochschule Wuppertal erleben konnten. Uns bewegen und tragen manche der Aufbrüche und neuen Beheimatun­gen bis heute. Auch wenn durch unsere Generation die Welt und die Kirche wohl anders, aber nicht unbedingt besser geworden sind.

So wie Hilde Domin es schon im Jahr 1978 recht ernüchtert konstatier­te: „Die meisten der hochgespan­nten Erwartunge­n, der weltweiten Forderunge­n von 68 wurden frustriert. Der Ruf nach mehr Demokratie, mehr Mitsprache, endete praktisch in Statuten und Geschäftso­rdnungen, in mehr Bürokratie.“

Die Folgen unserer Serie

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FOTOS: PRIVAT | REPROS: A. BÜSSEMEIER GRAFIK: C. SCHNETTLER
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