Rheinische Post Langenfeld

Wie Psychiatri­e eine Kindheit zerstörte

- VON HEIKE SCHOOG

Der Landschaft­sverband Rheinland arbeitet gerade ein dunkles Kapitel auf: In den 50er und 60er Jahren erlebten viele Kinder in Heimen Missbrauch und Gewalt. Günter Scheidler war eines davon.

LANGENFELD/BONN Günter Scheidler ist Jahrgang 1957. Seine Kindheit hat er in Kinderheim­en und der Langenfeld­er Psychiatri­e verbracht. Was Scheidler erlebt und gesehen hat, was er erdulden musste, ist unaussprec­hlich: Gewalt, Missbrauch, medizinisc­he Versuche in einer Zeit, in der kaum ein Gesetz Kinder geschützt hat. Scheidler ist Erzähler des E-Books „Weißer Hase“. Robby van Haaken hat die Erinnerung­en des heute 60-Jährigen aufgeschri­eben und im Netz herausgege­ben. Sie sind unter www.guenter-scheidler.de zu finden.

Dem Landschaft­sverband Rheinland (LVR), der in der Veröffentl­ichung eine große Rolle spielt, war das Buch bislang nicht bekannt. „Die persönlich­en Beschreibu­ngen des Günter Scheidler sind glaubwürdi­g“, sagt LVR-Sprecherin Katharina Landorff. „Sie decken sich mit ähnlichen Beschreibu­ngen von ehemaligen jungen Patienten psychiatri­scher Einrichtun­gen, wie eine aktuelle Studie, die der Landschaft­sverband Rheinland (LVR) in Auftrag gegeben hat, belegt.“

Nun hat der LVR die Studie mit dem Titel „Gestörte Kindheit“in Bonn vorgestell­t. Sie befasst sich mit der Zeit von 1945 bis 1975 in der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie. Das Ergebnis von zwei Jahren Forschungs­arbeit, die Silke Fehlmann und Frank Sparing vom Institut für Geschichte der Medizin der Düsseldorf­er Heinrich-Heine-Universitä­t geleistet haben. Schwerpunk­t ist dabei die Klinik in Bonn als „Sichtungs- und Verteilins­titution“.

Zurück zu Scheidler: Geboren ist er in Wuppertal. Seine Mutter war unverheira­tet. Sie lässt ihn im Krankenhau­s zurück. Das Jugendamt bringt das Kind ins Heim. Eine Odyssee beginnt. Scheidler gilt als „debil“– wie viele Kinder und Jugendlich­e der Zeit. „Psychopath­isch, charakterl­ich abartig, schwachsin­nig“sind Diagnosen aus den 50er/60er Jahren, die eine Einweisung begründen sollten, so der LVR. „Stigmatisi­erung war allgegenwä­rtig“, sagt Landorff.

1965 wird Scheidler vom evangelisc­hen Kinderheim in Odenthal in die Kinderpsyc­hiatrie Langenfeld gebracht. Ein „dunkler VW Käfer“wartete im März vor dem Kinderheim und „brachte mich auf direktem Weg in die Hölle“, heißt es in der Veröffentl­ichung. „Mir war kalt, ich hatte Angst, und ich spürte den lauten Motor des Käfers hinter mir auf dem Weg durch die kurvigen Straßen des morgendlic­hen, seltsam still anmutenden Bergischen Landes.“Zurückgela­ssen hat er seinen weißen Hasen. Weihnachts­geschenk und einziger Freund. Wie ein roter Faden zieht er sich durch die Geschichte – als etwas, das fehlt.

Empfangen haben ihn das Schild „Rheinische Landesklin­iken Langenfeld“und Schwester Elisabeth, die ihn durch den „ordentlich gepflegten Park“führt – bis zur „Villa“, wo er in einem Zehn-Bett-Zimmer untergebra­cht wird. Die Betten: vergittert. Die Insassen: ruhiggeste­llt. „Da. Das ist deins, da wartest du jetzt auf mich, bis ich wieder da bin!“, habe die Schwester der Abteilung K 2 gesagt. So steht es im „Wei- ßen Hasen“. Seine Spielkamer­aden sind danach Epileptike­r, Kinder mit Schizophre­nie, Tourette-Syndrom und apathische, kleine Menschen, die niemals sprechen. Gibt es Schwierigk­eiten, werden diese mit Schlägen und Spritzen beseitigt. Die morgendlic­he „Bettinspek­tion“ist der pure Horror. Im Sommer 1965 beobachtet Scheidler einen Missbrauch­sfall. Drei Pfleger, ein schreiende­r, kleiner Junge. Er schweigt. Aus Angst. „Gewalt war im Leben der jungen Patienten auf allen Ebenen präsent“, kommentier­t Landorff.

1966 ändert sich das Leben von Günter Scheidler. Die Schulpflic­ht wird eingeführt, und er besucht die Fröbelschu­le in Opladen. Doch Ende November endet für Scheidler abrupt das Schuljahr. Nach einem medizinisc­hen Versuch, bei dem er Spritzen in den Rücken bekommen hat, kann er nicht mehr laufen. Sein Fall wird vor großem Auditorium präsentier­t. „Mein nacktes Hinter- teil durfte bestaunt werden, und den vielen Leuten im Raum wurde genau erklärt, was die Spritzen aus meinem Rückenmark heraus befördert haben – oder in die Wirbelsäul­e hinein. Ich verstand nichts“, so erinnert sich Scheidler. Spätfolge: Morbus Scheuerman­n, eine Wachs- tumsstörun­g der Wirbelsäul­e. „Es gab medizinisc­he Eingriffe, deren Nutzen nicht immer deutlich war“, bestätigt Landorff. Die Verhältnis­se seien teilweise grausam gewesen. Das Thema „Pharmazeut­ik“(Medizinver­suche) werde deshalb in einer weiteren Studie untersucht. Es gebe allerdings nicht viel historisch­es Material. „Viele Akten sind vernichtet worden“, bedauert sie. Ulrike Lubek, LVR-Direktorin, weiß um das Leid. „Wir bekennen uns zu unserer Verantwort­ung, wir entschuldi­gen uns für das auch durch schuldhaft­es Handeln von Mitarbeite­nden des LVR begangene Unrecht“, sagte sie bei der Buchpräsen­tation.

Scheidler hat sich von dem Versuch erholt und kann im August 1967 wieder in die Schule. „Die Rückkehr in die Klinik war jedes Mal demütigend.“1972 beginnt er eine Lehre, wohnt in einem Jugenddorf, wo er gut behandelt wird. Endlich. Seinen Hasen hat er bis heute nicht vergessen.

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FOTO: LVR Die Aufnahme zeigt ein Kinderheim im Rheinland in den 60er Jahren. Der Landschaft­sverband Rheinland hat das Foto zur Verfügung gestellt.

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