Das Haus der 20.000 Bücher
Hunderte von Jahren vor dem Aufkommen des Druckwesens hatten Raschi und seine Schüler ihre Kommentare zu einzelnen Passagen der Hebräischen Bibel (oder Tanach) an die Ränder der Manuskripte geschrieben, an denen sie arbeiteten; dabei zogen sie den großen Vorrat der rabbinischen Überlieferung, das heißt des Midrasch, heran, um einzelne Zeilen im Tanach zu interpretieren. Außerdem hatte Raschi eine große Menge von Tosafot (Kommentaren) zum Talmud verfasst. Über Generationen hinweg fügten andere Gelehrte ihre eigenen Kommentare denen Raschis hinzu. Schreiber kopierten diese Texte gewissenhaft per Hand und verbreiteten sie in jüdischen Gemeinden in ganz Europa und im Vorderen Orient. Heute finden sich Raschis Notizen, zusammen mit den Tosafot, in allen veröffentlichten Ausgaben des Talmud.
Das Manuskript, das Chimen und Mimi erwarben, war, wie ihr fragmentarischer Briefwechsel aus jener Zeit vermuten lässt, 1948 die fürstliche Summe von 10.000 Pfund wert, was heute mehreren Hunderttausend Pfund entspricht. Worum genau es sich jedoch bei jenem Manuskript handelte – wer Raschi abschrieb und wann, ob die Ränder mit zusätzlichen Kommentaren versehen waren, wo das Manuskript entstanden war und wer es in den Jahrhunderten davor besessen hatte oder auch nur, ob es sich um einen Bibel- oder Talmud-Kommentar von Raschi handelte –, gehört zu jenen Geheimnissen im Leben meiner Großeltern, die ich nicht lüften kann. Die Briefe, in denen sich die beiden darüber austauschten, wurden in den letzten Monaten des Jah- res 1948 geschrieben, als Chimen durch Amerika reiste. In Mimis Briefen, die er aufbewahrte, fehlen die fachspezifischen Details. Chimens Briefe dagegen, welche die Einzelheiten mit großer Wahrscheinlichkeit enthielten, sind nicht mehr vorhanden. Jedenfalls scheint klar zu sein, dass sie zumindest für ein paar Monate einen Elftel-Anteil an etwas besaßen, das mit Raschi zu tun hatte und sehr kostbar war. Allerdings mussten sie ihren Anteil verkaufen, als sich einer ihrer Mitinvestoren gezwungen sah, seine Anlage flüssig zu machen. Sie erzielten einen hübschen Gewinn, den sie sofort investierten, um das Lager des Buchladens aufzustocken. Der Erwerb und anschließende Verkauf des Raschi-Manuskripts scheint Chimens Karriere als Buchhändler spürbar beflügelt zu haben. Nun handelte er in größerem Stil.
In dieser Zeit, als sich seine Interessen verlagerten, knüpfte Chimen neue geschäftliche Beziehungen. Er blieb in engem Kontakt mit Eisemann, doch als sich in den sechziger Jahren seine Judaica-Sammlung rasch vergrößerte, war sein Mentor bereits alt und zunehmend gebrechlich. Sie trafen sich hin und wieder zum Mittagessen und sprachen über Manuskripte, aber Eisemann war nicht länger der dominierende Part. Nach und nach zog sich der alte, kränkelnde Experte von der Bühne zurück; 1972 starb Eisemann schließlich im Alter von zweiundachtzig Jahren. In der Zwischenzeit hatte Chimen längst andere Menschen gefunden, die seine Leidenschaft für seltene Manuskripte teilten. Der wichtigste unter ihnen war Lunzer. Mehrere Jahre jünger als Chimen, war er eine Zeit lang mit dessen Bruder Menachem in die Schule gegangen. Nach dem Krieg hatte er gelegentlich bei Shapiro, Valentine & Co. vorbeigeschaut, um Bücher zu kaufen. Jahrzehnte später wurde die Verbindung mit den Abramskys durch die gemeinsame Leidenschaft erneuert.
Lunzer, ein erfolgreicher Diamantenhändler und ein außerordentlich kultivierter Mann, hatte genug Geld, um sich die seltensten hebräischen Manuskripte und Bücher aus der Zeit der italienischen Renaissance beschaffen zu können. Chimen hingegen kannte sich mit dem Umfeld aus, in dem diese Kunstwerke entstanden waren, und vermochte den Wert der Sammlung einzuschätzen, die sein Freund so gezielt aufbaute. Lunzer stellte Chimen nach dessen Emeritierung am University College London als reisenden Berater für die Valmadonna Trust Library ein. Die beiden gaben ein perfektes, wenn auch höchst unterschiedliches Paar von Büchersammlern ab: Lunzer – stattlich und mit der Aura eines angesehenen Geschäftsmannes; Chimen – eine winzige Person, ausschließlich auf die wissenschaftlichen Aspekte konzentriert. Zwischen dem 8. Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung und der Mitte des 16. Jahrhunderts, führte Chimen aus, hätten Gelehrte, die sich der hebräischen Sprache bedienten, eine riesige schriftliche Kultur geschaffen, die großenteils durch Vertreibungen und Bücherverbrennungen zerstört worden sei. Die Überreste würden jedoch ausreichen, um zu verdeutlichen, wie lebendig es in den jüdischen Gemeinden zugegangen sei. Er fuhr fort: „Die Juden beschränkten sich nicht darauf, die Hebräische Bibel oder Bücher daraus, besonders die Thora (den Pentateuch), das heiligste Buch, liebevoll zu kopieren (und bisweilen zu illuminieren). Sie schrieben und kopierten auch die zahlreichen Bände des Talmud, Inbegriff des mündlich weitergegebenen Gesetzes und zugleich nach der Thora der heiligste und wichtigste Text, der das Leben eines Juden von der Geburt bis zum Tode lenkte, prägte und gestaltete. Zudem schrieben sie Abhandlungen über Kommentare zur Bibel und zum Talmud; verfassten Werke zu Philosophie, Astronomie, Medizin, Mathematik und den Naturwissenschaften sowie Grammatiken und Lexika; auch in der Dichtkunst taten sie sich hervor, und zwar in der geistlichen wie in der weltlichen, nicht zuletzt durch Liebeslieder. Sie verfassten Predigten, Chroniken und polemische Werke und schufen einen weitverzweigten Gesetzescodex sowie eine ganze Reihe rabbinischer Responsen. Kurz, sie entwickelten eine eigene Zivilisation.“In einem Essay, der anlässlich des 1970 in New York stattfindenden Verkaufs der Bücher und Manuskripte des Sammlers Michael Zagayski dem Auktionskatalog beigegeben war, erläuterte Chimen, dass „jüdische Gelehrte und Philosophen Abhandlungen über Astronomie, Medizin, Mathematik und die Naturwissenschaften schrieben. Der Philosophie gebührte der Ehrenplatz. Dichter verfassten ausgesprochen lyrische religiöse Verse sowie einige der bedeutendsten mittelalterlichen Liebeslieder; jüdische Mystiker wollten die Geheimnisse des Universums ergründen und suchten, bisweilen voller Verzweiflung, einen Weg allgemeinen und nationalen Heils“. Diese Zivilisation wollte Chimen in seinem oberen Wohnzimmer wieder aufleben lassen.
(Fortsetzung folgt)