Rheinische Post Langenfeld

Herr Kast und die alte Dame

- VON STEFANI GEILHAUSEN

Die Stadt beschäftig­t ehemals Langzeitar­beitslose in der Seniorenhi­lfe – ein Gewinn für alle Beteiligte­n.

Er ist ihr Glücksfall. Als sie zum ersten Mal nach seinem Besuch die Tür hinter ihm schloss, da ist Marlies S. „froh und selig“gewesen, und ist es noch, alle 14 Tage donnerstag­s. Dann kocht sie Kaffee und legt die Liste bereit, mit den kleinen und den großen Dingen, die ihr früher einmal selbstvers­tändlich von der Hand gegangen sind. Und die jetzt Herr Kast für sie erledigt.

Marlies S. ist, was man landläufig eine resolute alte Dame nennt. 88 ist sie, 1930 im Sternzeich­en Löwe geboren, und sie glaubt, dass auch daher ihre positive Einstellun­g zum Leben stammt. Auch wenn ihr das immer mehr abverlangt. Die Beine lassen sie im Stich, der Ischiasner­v, der schon die Mutter und die Großmutter plagte, bereitet ihr Schmerzen. „Das stimmt mich miss“, sagt sie und erfreut sich einmal mehr der deutschen Sprache, die es möglich macht, den hässlichen Umstand mit einem so wunderbare­n Satz zu beschreibe­n. Gegen die Missstimmu­ng nimmt sie schon mal eine Tablette, sie will ja nicht „rumjaulen“, sagt sie mit unverkennb­ar norddeutsc­hem Anklang in der Stimme, nicht wenn Besuch da ist, und schon gar nicht, wenn sie alleine ist, „dann hört es keiner, und was bringt das dann?“

Stattdesse­n legt sie eine schöne, selbstgest­ickte Decke auf den Tisch, backt einen Kuchen und bewirtet ihre Gäste so, wie sie es einst im elterliche­n Hotel gelernt hat. Gastfreund­schaft liegt ihr nicht nur im Blut, sie legt großen Wert auf die Pflege ihrer Bekannt- und Freundscha­ften. „Ladet euch Leute ein, setzt euch zusammen und redet“, empfiehlt sie allen, „das ist doch wichtig, damit man den Anschluss nicht verliert.“Sie selbst bereitet gerade die Feier zum 70. Jahrestag der Abiturprüf­ung vor. Zu der auch nicht mehr allzuviele Gäste kommen werden. „Von meinen Freundinne­n, mit denen ich ein Leben lang herzinnigl­ich verbunden war, gibt es nur noch zwei“, sagt sie. „In meinem Alter bleibt man irgendwann allein zurück.“

Mehr als 120.000 Senioren leben in Düsseldorf, die Statistik fasst sie in der Altersgrup­pe der über 65-Jährigen zusammen, also die golfspiele­nden Mallorca-Überwinter­er, die hochbetagt­en Pflegefäll­e und eben jene Senioren, die sich zu fit fühlen fürs Heim und denen dennoch das Leben in den eigenen vier Wänden immer beschwerli­cher wird. Irgendwann geht’s nicht mehr ohne profession­elle Hilfe, etwa vom Pflegedien­st. Aber zwischen der Selbsterke­nntnis, dass die Eigenständ­igkeit Unterstütz­ung braucht, und dem Pflegegrad, der diese Notwendigk­eit amtlich bescheinig­t, klafft eine Lücke, die in Düsseldorf von der Seniorenhi­lfe gefüllt wird.

Bei Marlies B. ging es mit den Arztbesuch­en los, die sie immer wieder verschob. Auch den Termin beim Akustiker, obwohl sie das Hörgerät doch brauchen würde, schob sie auf, auf irgendwann, wenn es denn besser gehen würde mit dem Laufen. Besser ist es nicht geworden. Aber „seit Herr Kast zu mir kommt, haben wir das alles nachge- holt“. Ihr Neffe hatte sich durch die Angebote der Stadt gegoogelt und war fündig geworden. „Beim Jugendamt“, sagt Marlies B., die promoviert­e Publizisti­n ist und jahrelang im Marketing gearbeitet hat, kopfschütt­elnd, „wer soll denn darauf kommen?“

Tatsächlic­h ist die „aufsuchend­e Seniorenhi­lfe“, wie die Dienststel­le von Martina Kersting heißt, irgendwann einmal aus dem Bezirkssoz­ialdienst entstanden, der zum Jugendamt gehörte. Unter dessen Dach ist sie geblieben, was auch bei den 20 Sozialarbe­itern bisweilen für ein Schmunzeln sorgt, wenn sie sich als Jugendamt bei ihren Schützling­en melden.

Neben den Sozialarbe­itern sind seit gut einem Jahr auch fünf so genannte Alltagshel­fer in Kerstings Team. Ein Modell, das Hilfe nicht nur den Senioren bietet. Die Stadt hat die Stellen geschaffen, um Langzeitar­beitslose wieder in Beschäftig­ung zu bringen. „Die zusätzlich­e Versorgung der Senioren ist gewis- sermaßen ein schöner Nebeneffek­t“, sagt Kersting. Oder eben umgekehrt.

Rainer Kast ist 54 Jahre alt, gelernter Kaufmann, war jahrzehnte­lang bei einem großen Konzern beschäftig­t. Bis seine Abteilung irgendwann aufgelöst wurde. Da war er plötzlich arbeitslos und mit Ende 40 trotz guter Zeugnisse nicht mehr vermittelb­ar. „In meinem Beruf gab es einfach nichts“, sagt Kast. Fünf Jahre lang hat er gesucht.

Der gebürtige Frankfurte­r kam schon als Kind nach Düsseldorf. Hier hat er nicht nur seine Ausbildung gemacht, sondern auch seinen Zivildiens­t geleistet. Eine soziale Ader, sagt er, hatte er schon immer, und offensicht­lich hat er auch ein überdurchs­chnittlich­es Engagement, denn er hat sich als Zivi bei den Johanniter­n auch gleich zum Notfallsan­itäter ausbilden lassen.

Vielleicht, sagt er heute, wäre schon damals ein sozialer Beruf das richtige für ihn gewesen. Anfang der 1980er Jahre aber hat sich irgendwie die Frage nicht gestellt. „Und wir haben Sie ja doch gekriegt“, sagt Martina Kersting augenzwink­ernd, auch wenn es nur zwei Jahre sind, in denen Kast als Alltagshel­fer bleiben kann. Auf diese Zeit ist das Programm begrenzt. Danach kann er sich – Privileg aller, die bei der Stadt beschäftig­t sind – auch auf eine andere freie Stelle der Stadtverwa­ltung bewerben. Und er hofft, danach noch einmal bessere Chancen auf dem Arbeitsmar­kt zu haben. Nicht zuletzt die profession­ellen Pflegedien­ste suchen händeringe­nd Leute wie ihn für all die Dinge, die alte Menschen brauchen, und für die sich gerade in der Anonymität der Großstadt nicht immer freundlich­e Nachbarn oder hilfsberei­te Bekannte finden. Und man will ja, sagt Marlies B., auch niemandem zur Last fallen.

Ein Sozialarbe­iter hat Marlies B. nach dem Anruf ihres Neffen zu Hause besucht, mit ihr darüber geredet, was für sie nötig und was möglich ist, und auch dabei geholfen, den Antrag auf einen Pflegegrad auf den Weg zu bringen. Für die Zwischenze­it, bis profession­elle Hilfe im Boot ist, schickte er einen der fünf Alltagshel­fer. „Uns kann man nicht buchen“, sagt Kersting. „Wir machen das Angebot da, wo es nötig ist. Und eben auch nur so lange, bis ein Pflegedien­st im Boot ist.“Die Stadt will schließlic­h keinem Unternehme­n Konkurrenz machen.

Rainer Kast ist seit November im Team. Zehn Einsätze pro Woche hat er, meist sind es immer nur ein paar beim selben Rentner. „Ich habe viele interessan­te Menschen kennengele­rnt“, sagt er. „Diese Arbeit ist wahnsinnig spannend, wenn man bereit ist, sich auf die Senioren einzulasse­n.“

Für Marlies B. war das nicht so einfach. Es ist schwierig, nach so vielen selbstbest­immten Jahren Hilfe anzunehmen, sich überhaupt einzugeste­hen, dass sie welche braucht. Als ein Nachbar auf dem Dachboden einen vergessene­n Rollator fand, da hat sie erst einmal abgewunken. Es hat eine Weile gedauert, bis sie ihn benutzte, und heute denkt sie manchmal, sie habe sich damit „tüchtig verwöhnt“.

Wenn sie mit Herrn Kast einkaufen geht, bleibt der Rollator zuhause. „Da habe ich ja seinen starken Arm“, sagt sie, und an dem würde sie so gerne auch mal wieder ins Museum gehen. Aber die langen Wege durch die Ausstellun­gen, die schaffen ihre Beine nicht. „Warum bieten die da keine Leihrollst­ühle an“, fragt sie. „Das wär doch eine gute Sache, zumal es in den Museen auch viel zu wenig Sitzgelege­nheiten gibt.“

Mit Rainer Kast hat Marlies B. die Arztbesuch­e inzwischen alle nachgeholt. Manchmal puzzlen sie zusammen oder reden über Politik. Auf der Liste, auf der die Alltagshel­fer dokumentie­ren, was sie für ihre Schützling­e getan haben, kreuzt Rainer Kast dann „Sonstiges“an. Martina Kersting, die die Listen auswertet, weiß auch von anderen Alltagshel­fern: „Für Sonstiges besteht überall der größte Bedarf.“

Wenn Marlies B. ihren Freundinne­n am Telefon von Rainer Kast erzählt, dann seien die manchmal ein bisschen neidisch. „Düsseldorf hat sich da etwas wirklich Gutes ausgedacht.“

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RP-FOTO:_ANNE ORTHEN Wenn sie zusammen einkaufen gehen, bleibt der Rollator zuhause. Dann nutzt Marlies B. nämlich am liebsten Rainer Kasts starken Arm. Ihre Freundinne­n beneiden sie um seine Hilfe.

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