Finde niemals zu dir selbst
In Ausnahmezustand versetzt einen normalerweise nur die Musik, die man als Teenager entdeckt hat. Doch mit ihrem neuen Album „Fake“hat die Band – Die Nerven – unseren 39-jährigen Autor wieder zum Jugendlichen gemacht.
Am Tag, als Avicii stirbt, besuche ich ein Konzert der Nerven. Was heißt besuchen? Jede Faser meines Körpers steht in Flammen, und doch ahne ich, dass ich am Ende enttäuscht sein werde, weil die Erwartung vor der Wirklichkeit immer kapitulieren muss. Und tatsächlich: Als Schlagzeuger, Bassist und Gitarrist auf die Bühne schlurfen, wirken sie ungelenk: steife Bewegungen, kaum Kontakt mit dem Publikum, ein sichtliches Unwohlsein. Es scheint, als würde sich die Band gegen die anstehende Vereinnahmung sträuben. Die neue Platte „Fake“ist gerade erschienen. Dabei sind die Menschen im Publikum Gleichgesinnte, abgesehen von den obligatorischen Idioten, die in jede Stille hinein „Bass-Solo“brüllen. Sie tragen AC/DC-Shirts.
Das erste Mal höre ich Die Nerven in einem Video. Vier Jahre ist das her. „Angst“ist ein schnelles, mitreißendes Postpunkstück über Unsicherheit, Zweifel und Desorientierung. Im Video treten Tocotronic als Fake-Nerven in einem Jugendklub auf, der den 1990er Jahren entsprungen sein könnte. Die echten Nerven rotzen in ein Urinal und schauen ansonsten gelangweilt den Mittvierzigern beim lippensynchronen Performen zu. Wenn ein Algorithmus die ideale Musik für mich hätte programmieren müssen, wären Die Nerven dabei herausgekommen.
„Angst“und das dazugehörige Album „Fun“triggern mich, wie mich lange nichts mehr getriggert hat: die assoziativen Texte, die aufgebrachte Musik, die selbstreflexive Attitüde des Dagegenseins, das Spiel mit dem Do-it-yourself, die geschickt gesetzten Referenzen, die Slogans. Ich bin 35, als ich „Fun“höre. Und frage mich, ob hier nicht was falsch läuft. Ob ich in diesem Alter noch auf etwas abfahren sollte, das ich vor einem halben Leben schon mal hatte.
Vielleicht ist es so, dass die Musik, die man zwischen 13 und 19 hört, einen nie wirklich loslässt. Natürlich kannst du mit 40 Arvo Pärt entdecken, doch in Ausnahmezustand versetzen dich Bands, deren Texte du dir damals mit Edding auf die Unterarme geschrieben hast, als du dachtest, deine Empörung über die Welt ließe sich in drei Minuten fassen. Und wenn Jahrzehnte später eine Band scheiße klingt, aber so ähnlich wie damals, wird dich das mehr fesseln als „Metamorphosis“von Philip Glass. Weil darin glorrei- che Erinnerungen stecken; zum ersten Mal die Erkenntnis, dass Musik der alleinige Ausdruck für etwas ganz tief in dir ist.
Mit Jugendkultur muss das nicht unbedingt etwas zu tun haben. An öffentlichen Plätzen spielt die Generation ohne Namen auf ihren Bluetooth-Boomboxen Avicii, Kollegah oder Frei.Wild. Die Nerven wird man dort selten hören. Denn das, wofür sie stehen – ein grundsätzliches Unbehagen angesichts der Gegenwart – ist zu wenig direkt. Bei ihnen fehlt der Adressat, die plumpe Benennung eines Feindes, die Provokation um der Provokation willen.
Zurück zur Scham. Mit Mitte 30 springt man nicht mehr in die Luft und ruft „Die Welt ist mein Feind“. Oder doch? Und wenn, sollte ich dann nicht zumindest etwas hinzufügen, etwas, das differenziert, das lebensweiser ist? Aber ist nicht gut, was mich in direkte Raserei versetzt, gleich, ob Sonic Youth das vor 30 Jahren schon gemacht haben oder Franz Liszt im 19. Jahrhundert? Sind alles andere nicht soziale Erwartungen, wie ich mich wann zu Musik verhalten, wann ich mit etwas abgeschlossen haben sollte?
Entgegen aller Wahrscheinlichkeit und irgendwie doch folgerichtig hat sich das biedere Stuttgart zu einem der Schlüsselorte für das moderne deutsche Unbehagen entwickelt. Die ausgemergelten Karies, der Shoegazer-Nihilismus von Human Abfall, All diese Gewalt, das experimentelle Nebenprojekt von Nerven-Gitarrist Max Rieger. Ein kleiner Kosmos des Sträubens ist dort entstanden, selbstbewusst in seinen Zitaten, ohne den Eigensinn so penetrant zu inszenieren wie Isolation Berlin.
Die Nerven sind das Epizentrum dieser Bewegung. Das Cover ihres vierten Albums „Fake“zieren flammenrote Artefakte eines schlecht komprimierten Fotos. Die Texte liefern Interpretationshilfen zu aktuellen Ereignissen und sind doch offen genug, um sich komplett in sich selbst zu verlieren. „Fake“fragt: Wie kann man wütend sein, ohne zum Wutbürger zu werden? Wie Protest äußern, ohne in dumpfe Die-daoben-Parolen zu verfallen? Wie sieht Widerspruch aus, wenn dieser seit den ersten Gitarrenklängen im Image des Künstlers eingepreist ist? Sollte solche Musik konstruktiv sein oder selbstzerstörerisch?
Nach 80 Minuten ist das Konzert beendet. Das Sträuben hat sich aufgelöst, ich, die Nerven haben sich dem Unbehagen hingegeben. Die Zugabe ist „Nie wieder scheitern“, ein Stück wie brüllendes Schweigen nach einer gewaltigen Explosion.
Habe ich ein Bandshirt mit einprägsamem Slogan gekauft? Nein. War ich vor der Bühne bei den Jungs im Moshpit? Auch nicht. Bin ich in die Luft gesprungen und habe gerufen: „Ich bin immer noch wütend, ich habe immer noch Angst, ich weiß oft nicht weiter, aber es ist okay“?
Und wie.