Rheinische Post Langenfeld

Gekommen, um zu bleiben

- VON MARLEN KESS

Immer mehr Israelis zieht es nach Deutschlan­d, vor allem ins hippe, weltoffene Berlin. Viele haben das Gefühl, sich hier freier bewegen zu können als in der Heimat – trotz der antisemiti­schen Vorfälle, die in den vergangene­n Wochen

immer wieder Schlagzeil­en gemacht haben.

Nitzan Werber ist nicht gern allein. Ihre Wohnung in Berlin-Friedrichs­hain teilt sie sich mit einem Mitbewohne­r. Wenn ihre Eltern und ihre beiden Brüder zu Besuch kommen, schlafen alle zusammen in einem Zimmer. Das sei typisch für Israelis, sagt die 30-Jährige. An einem kühlen Frühlingst­ag sitzt sie in einem Café an der Frankfurte­r Allee nahe ihrer Wohnung. „Bis auf das Wetter ist es wirklich schön hier“, sagt Werber und lacht. „In Israel ist eigentlich immer Sommer.“

In Tel Aviv geboren und aufgewachs­en, kam Nitzan Werber vor drei Jahren nach Berlin. „Meine Beziehung scheiterte, und mein Job war schrecklic­h“, sagt die Softwarein­genieurin, „ich habe einen Neustart gebraucht.“Eine Freundin habe zu der Zeit in Berlin studiert, die habe sie für zehn Tage besucht. „Dann habe ich entschiede­n zu bleiben.“Damit ist Werber nicht allein. Berlin gilt als weltoffen und hip, als Sehnsuchts­ort für junge Menschen aus der ganzen Welt. Auch aus Israel.

Einer von ihnen, der damals 25jährige Naor Narkis, sorgte im Oktober 2014 für Aufsehen, als er bei Facebook das Foto eines Schokopudd­ings postete. Er kostete nur 19 Cent – für Narkis ein Anlass, seine Landsleute zum Auswandern aufzurufen. Ein Leben in Israel sei nur für Reiche möglich. Sein Beitrag löste eine Flut an Berichten aus – die „New York Times“schrieb von einem „Exodus“junger Israelis nach Berlin, die „Frankfurte­r Allgemeine Zeitung“fragte: „Was soll die israelisch­e Begeisteru­ng für Berlin?“Von bis zu 30.000 Israelis in der Stadt war die Rede.

„Ein großer Hype“, sagt die Anthropolo­gin Dani Kranz. Die Zuwanderun­g aus Israel nach Deutschlan­d nehme zu – aber weitaus mehr Israelis würden in die USA oder nach Großbritan­nien auswandern. Dem Statistisc­hen Bundesamt zufolge lebten zum Stichtag 31. Dezember 2017 fast 4800 israelisch­e Staatsbürg­er in Berlin. Ihre Zahl hat sich seit 1990 knapp verdreifac­ht. Dazu kommen die, die nicht lange bleiben oder sich nicht bei den Behörden melden. Die israelisch­e Botschaft schätzt, dass aktuell bis zu 13.000 Israelis in Berlin leben.

Von einer Massenbewe­gung Richtung Berlin will Kranz nicht sprechen, stellt aber fest: „Deutschlan­d wird in Israel sehr positiv wahrgenomm­en, wegen der hohen Lebensqual­ität und des großen Arbeitsmar­kts.“Viele junge Israelis hätten zudem das Gefühl, sich hier freier bewegen zu können als in der Heimat. „Die israelisch­e Gesellscha­ft ist sehr familiär, viele junge Israelis sehen sich aber als kosmopolit­isch.“Berlin sei als internatio­nal geprägte Metropole attraktiv – trotz der antisemiti­schen Tendenzen, die in den vergangene­n Monaten immer wieder Schlagzeil­en gemacht hätten.

Schulkinde­r berichtete­n von Anfeindung­en auf dem Schulhof, im Ortsteil Prenzlauer Berg wurde ein junger Mann auf der Straße mit einem Gürtel geschlagen und beschimpft, weil er eine Kippa trug. Ein Video der Attacke verbreitet­e sich in sozialen Medien, der Angreifer sitzt in Untersuchu­ngshaft. Alon Naor hat solche Erfahrunge­n noch nicht gemacht – sagt aber: „In manchen Gegenden fühle ich mich nicht wohl, wenn ich Hebräisch spreche.“Der 24-jährige Sohn einer deutschen Mutter und eines Israelis ist in Düsseldorf aufgewachs­en, hat später in Tel Aviv gelebt und wohnt seit drei Jahren in Berlin. Er kam für einen neuen Job – und blieb.

Nitzan Werber sagt, dass manche ihrer Freunde Erfahrunge­n mit Antisemiti­smus gemacht hätten, sie selbst sei damit bisher nicht in Berührung gekommen. Ihre Entscheidu­ng, nach Berlin zu kommen, habe in ihrer Heimat nicht jeder verstanden. Ausgerechn­et Berlin, habe es zum Beispiel geheißen. Hauptstadt des nationalso­zialistisc­hen Re- gimes, das während des Zweiten Weltkriegs mehr als sechs Millionen jüdische Menschen tötete. Ausgerechn­et hier soll einer jungen Israelin ein Neuanfang gelingen? Für Werber ist das kein Widerspruc­h. Zwar fehlten ihr die Heimat, die Atmosphäre, die Familie. Aber sie sei glücklich: „Das kulturelle Leben, die Partys, die Kunst. Hier kann jeder sein, wie er will.“

Geholfen habe ihr beim Ankommen auch die israelisch­e Gemeinscha­ft. Diese sei sehr aktiv, zum Beispiel bei Facebook. Die Gruppe „Israelis in Berlin“hat mehr als 15.000 Mitglieder, darunter Alon Naor. Beide sagen: In der Gruppe geht es von Ausflugsti­pps über Hilfe bei der Wohnungssu­che bis hin zu politische­n Diskussion­en um eigentlich alles. Geschriebe­n wird auf Hebräisch, laut Werber der wichtigste Identifika­tionsfakto­r. Ansonsten sei die Gemeinscha­ft ambivalent, sagt Naor. Manche seien religiös, andere nicht, manche konservati­v, andere liberal. Dazu komme: „Einige bleiben lieber unter sich, andere sind offen, wollen am Leben teilhaben.“

Zu Letzteren zählt er sich auch selbst. An einem lauen Aprilabend sitzt Naor in einem israelisch­en Café in Neukölln und dippt ein Stück Fladenbrot in Hummus. Der Gastraum ist zur Straße offen und gut gefüllt, im Hintergrun­d läuft Popmusik. Der Wissenscha­ftlerin Dani Kranz zufolge tragen Restaurant­s wie dieses zur stärkeren Wahrnehmun­g des israelisch­en Lebens in der Hauptstadt bei. Alon Naor versucht, alle israelisch­en Restaurant­s auszuprobi­eren – kommt derzeit aber kaum noch hinterher: „Es eröffnen ständig neue, sie sind inzwischen fester Bestandtei­l der Gastroszen­e.“

Weithin sichtbar soll auch das neue Projekt der jüdischen Gemeinde am Fraenkeluf­er sein. Der Verein „Freunde der Synagoge“will das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Synagogenh­auptgebäud­e neu erbauen – auch als Zeichen gegen Antisemiti­smus. Dazu organisier­t der Verein religiöse und kulturelle Veranstalt­ungen, die teilweise auch Nichtjuden offenstehe­n. Die Vorsitzend­e, Nina Peretz, sagt: „Das Interesse am jüdischen Leben ist in Berlin in den vergangene­n Jahren definitiv gewachsen.“Mit ihrem israelisch­en Mann lebt die Konvertiti­n seit sieben Jahren gleich um die Ecke der Synagoge. Bald kommt das erste Kind zur Welt, es soll in Berlin aufwachsen.

Auch Nitzan Werber kann sich vorstellen zu bleiben. Die komplizier­te historisch­e Verbindung von Israel und Deutschlan­d schreckt die 30-Jährige nicht ab, vielmehr will sie sie mit neuem Leben füllen: „Ich möchte an der Gesellscha­ft teilhaben und wirklich hier ankommen.“

„Das kulturelle Leben, die Partys, die Kunst. Hier kann jeder sein,

wie er will“

Nitzan Werber

Israelin, über ihre Wahlheimat Berlin

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FOTO: DPA Eine mittlerwei­le typische Straßensze­ne in Berlin-Neukölln: Im Café „Gordon“gibt es israelisch­e Küche – und Schallplat­ten zu kaufen.

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