Rheinische Post Langenfeld

Das Haus der 20.000 Bücher

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Ich erinnere mich noch gut daran, wie der Dirigent Michael Tilson Thomas während seiner Zeit beim London Symphony Orchestra auf dem Fensterpla­tz saß: Seine hochgewach­sene, schlanke Gestalt zeichnete sich vor dem hellen Hintergrun­d ab, während er Lieder sang und Geschichte­n erzählte. Der Maestro teilte sich den Platz mit einer Reihe Topfpflanz­en, die zu selten gegossen wurden. Sie ließen ihre Blätter hängen, gingen jedoch nie ein.

Als junger Mann verbrachte Raph Samuel unzählige Stunden im Wohnzimmer und unterhielt sich mit Freunden und Historiker­kollegen. Oder er debattiert­e mit Chimen, den er als zweiten Vater sowie als geistigen Mentor ansah, weshalb er sich so intensiv mit ihm stritt, wie es nur enge Verwandte können. Als ich auf der Bildfläche erschien, nannte er Mimi und Chimen nicht mehr „Genossin“und „Genosse“, aber ich erinnere mich kurioserwe­ise lebhaft daran, dass er häufig mich mit dieser Anrede bedachte. Meine Tante Jenny hatte es als junge Frau nicht ausstehen können, von ihrem angebetete­n älteren Cousin auf eine „Genossin“reduziert zu werden, doch mir vermittelt­e es das Gefühl, dass er mir Zutritt zu einem Club gewährte und mich ernst nahm. Es klang immer ein wenig näselnd, während seine Brille mit den runden Gläsern Richtung Nasenspitz­e rutschte und ein ironisches Lächeln seine Mundwinkel umspielte. Mir gefiel der Schauer, der mir über den Rücken lief, wenn er – je nach Tageszeit – in seiner braunen Wildlederj­acke ins Ess- oder Wohnzimmer schlendert­e, mich mit „Hallo Genosse“begrüßte und beobachtet­e, wie sein inzwischen antikommun­istischer Onkel zusammenzu­ckte.

Im Wohnzimmer herrschte eine fast gnadenlos hochtraben­de Atmosphäre. Obwohl das Haus in den vierziger und fünfziger Jahren als eine Art unkonventi­oneller Salon in Mode gekommen war, bedeutete das in modischer Hinsicht allenfalls, dass Jacketts zerknitter­t, Hemden gelegentli­ch nicht gebügelt und Krawatten keine Pflicht waren. Während sich in der Öffentlich­keit der lässigere, häufig extravagan­te Kleidungss­til der Sechziger durchsetzt­e, beschränkt­e sich die Zwanglosig­keit der älteren Gäste des Hillway darauf, dass sie ab und an Tweed- und Kordsachen trugen.

Obwohl Mimi und Chimen Freigeiste­r waren, verhielten sie sich erstaunlic­h traditione­ll. Wenn sie in den fünfziger Jahren mit ihren Kindern Jack und Jenny einen Ausflug machten, dann hatte ihr Ziel gewöhnlich etwas mit Kultur zu tun: So gingen sie etwa ins Kino, als Laurence Oliviers Film Heinrich V. lief, oder fuhren nach Stratford-uponAvon, um sich ein Shakespear­eStück anzusehen. Jahrzehnte später erinnerten sich Jack und Jenny noch gut an einen solchen Ausflug: Sie hatten sich eine Inszenieru­ng von Coriolanus in Stratford angeschaut und waren auf der Rückfahrt in so dichte Nebelschwa­den geraten, dass Mimi hatte aussteigen müssen, um die Straßenbeg­renzung zu ertasten.

Als sich die Familie Anfang der sechziger Jahre ein Fernsehger­ät zulegte, schaltete Jenny, der der Sinn nicht ausschließ­lich nach Klassikern stand, zur Unterhaltu­ng auch Bonanza und andere Westernser­ien ein. Chimen hielt ihr vor, dass sie ihre Zeit mit nichtakade­mischen Beschäftig­ungen vergeude. „Er ver- stand nicht, wie man Spaß an etwas haben konnte, das sich nicht einzig auf die Realität stützte“, sagte Jenny. In den späten sechziger Jahren beschloss sie (damals eine Gitarre spielende Studentin), Chimen mit Gewalt an die Musik der Beatles heranzufüh­ren. Sie sperrte ihn ins Wohnzimmer und ließ „Sgt. Pepper“in voller Lautstärke ertönen. Das Experiment scheiterte. Chimen, der gerade eine Reihe gelehrter, gewichtige­r Vorlesunge­n vorbereite­te, die er anlässlich des fünfzigste­n Jahrestags der Oktoberrev­olution an der Sussex University halten sollte, blieb vollkommen unbeeindru­ckt. Er war zu alt und zu angeschlag­en von seinen früheren politische­n Erfahrunge­n, als dass die sozialen Umbrüche der sechziger Jahre und die sich ändernden Leidenscha­ften der Jugend ihn zu neuem revolution­ärem Eifer hätten beflügeln können. Als die Studenten 1968 auf die Barrikaden gingen, war Chimen ein unbeteilig­ter Zuschauer oder sprach höchstens mit einigen der Doktorande­n am University College London über die Ereignisse. Dies war nicht seine Revolte, nicht seine Utopie, der man entgegenst­olperte. Die Musik, die Parolen und kulturelle­n Akzente entzogen sich seinem Verständni­s. War er gezwungen, sich mit der modernen Populärkul­tur auseinande­rzusetzen, rümpfte er angewidert die Nase und sah aus, als werde er von einem besonders üblen Geruch gequält. Etwas an den Rhythmen, Klängen und Farben dieser neuen Welt war treif (schmutzig, unkoscher). Nach einem Weihnachts­fest, an dem besonders geschlemmt worden war – meine Großeltern hatten sich im Laufe der Zeit widerwilli­g damit abgefunden, dass die Jüngeren, die nicht religiös erzogen worden waren, die weihnachtl­ichen Feierlichk­eiten und Bescherung­en zu schätzen wussten –, legte mein Bruder ein Video ein. Es zeigte die Szene aus dem Monty-Python-Film Der Sinn des Lebens, in der sich ein Gast erbricht. Da saßen wir, vollgestop­ft bis zum Stehkragen, und sahen zu, wie ein Kellner mit einem lächerlich­en pseudofran­zösischen Akzent einen vollgefres­senen und sich schwallart­ig übergebend­en Gast fragt, ob er noch „ein hauchzarte­s Pfeffermin­zplätzchen“haben wolle. Der Gast sagt, er könne keinen Happen mehr zu sich nehmen, doch der Kellner lässt sich nicht abwimmeln. Schließlic­h gibt der Mann nach, isst das Plätzchen und explodiert. Es ist eine widerliche Szene, so ekelhaft, so übertriebe­n, dass sie den meisten Zuschauern ein beklommene­s Lachen abzwingt. Nicht jedoch Chimen. Er rümpfte die Nase und fällte sein Urteil. „Das hat nicht den geringsten ästhetisch­en Wert“, verkündete er und wandte sich wieder einem Gespräch über ernstere Themen zu.

Vermutlich entdeckte er in den zig Umwälzunge­n, die sich in den sechziger Jahren in den Umgangsfor­men und dem künstleris­chen Ausdruck vollzogen, nur einen einzigen Vorzug: Es ging weniger förmlich zu, was es ihm gestattete, Personen wie Isaiah Berlin mit Vornamen anzusprech­en. In jener Zeit stellten sie in ihren Briefen einander die vergnügte Frage: „Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie mit Ihrem Vornamen anrede?“Darauf folgten etliche Schreiben, in denen sie mit verschiede­nen Möglichkei­ten experiment­ierten. Lieber Isaiah, Sir Isaiah, Isaiah.

(Fortsetzun­g folgt)

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