Das Haus der 20.000 Bücher
In Lublin, wo einst TalmudSchulen gestanden und bedeutende Religionsvertreter gelebt hatten, bemerkte er, dass „es keine Straße gibt, die nach einem Juden benannt ist. Als wären sie nie hier gewesen“. Polen sei „heutzutage eine Wüste für Juden. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten hier über drei Millionen“.
Chimen begnügte sich nicht damit, Konferenzen als einer von vielen zu besuchen, er begab sich auch wieder auf Vortragsreisen. Seine ehemaligen Schützlinge in Stanford überredeten ihn, für eine weitere Vorlesungsreihe nach Kalifornien zu kommen. Er wurde mit Beifall empfangen, und sein Publikum hatte den Eindruck, dass er immer noch in Bestform war. Seine Vorlesungen, die er in mehreren Workshops vor Dozenten und Doktoranden hielt, waren vollgestopft mit Fakten, und sein Gedächtnis erwies sich als so außerordentlich wie eh und je. Allerdings hatten diese Ver- anstaltungen auch etwas Berührendes an sich: Das Publikum wusste, genau wie Chimen, dass er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht noch einmal die Kraft haben würde, aus einem fachlichen Anlass eine so weite Reise anzutreten.
Nach außen mochte er widerstandsfähig wirken, aber privat war er ein zutiefst einsamer Mann. Es gebe, schrieb er mir, „wenig aus einem leeren Haus zu berichten. Leer, das heißt ohne Miri.“Doch auch ohne seine Gastgeberin übte das Haus der Bücher weiterhin eine magnetische Anziehungskraft auf Wissenschaftler und Bibliophile aus. Junge Forscher unternahmen nun eine Art Pilgerfahrt zum Hillway 5, zu dem legendären Haus und seinem legendären Bewohner. „So gut wie jede Frage, die ich nach jüdischen Kreisen in London, jüdischen Büchern oder jiddischer Kultur hatte, konnte er beantworten“, erinnerte sich David Mazower. „Gele- gentlich schickte er mir Postkarten oder rief mich an, um sich zu erkundigen: ,Wo stecken Sie? Kommen Sie vorbei.’ Das Haus und er waren eine Zeitkapsel, die alles verkörperte, was ich an der aschkenasischen Zivilisation am meisten schätzte.“
In den letzten Jahren seines Lebens kehrte Chimen immer häufiger zu den religiösen Texten seiner Jugend zurück. Er betete nicht und blieb der Synagoge am Sabbat fern, doch er suchte in den großen traditionellen Texten nach Inspiration. Vielleicht begann er sogar, in diesen Schriften nach einer religiösen Wahrheit Ausschau zu halten, obwohl er es nicht einmal sich selbst eingestanden hätte. Am 10. März 1998, knapp ein Jahr nach Mimis Tod, schrieb Chimen seinem guten Freund John Felstiner in Stanford: „Was Gebete betrifft, so gibt es eine herrliche Aussage im Pseudo-Josephus, dem Josippon. Der anonyme Autor schrieb: ,Und Daniel betete dreimal am Tag. Wer zu Gott betet, der spricht zu Ihm, aber wer die Thora liest, zu dem spricht Gott.’ Ein interessanter Kommentar zum Gebet.“
Chimen glaubte nicht, dass man dem Erhabenen durch Gebete näherkam, noch dass Gott, wenn Er denn existierte, den Bitten von Sterblichen Aufmerksamkeit schenkte. Ein paar Monate vor seinem Tod besuchte ich ihn. Er war inzwischen weit über neunzig und saß mit versteinerter Miene in der Küche – jede Tätigkeit war jetzt eine Herausforderung – und betrachtete das spätsommerliche Laubwerk im Garten. „Jeden Tag, wenn ich aufwache und mich nicht zu schlecht fühle“, sagte er plötzlich mit kratziger, kraftloser Stimme, aus welcher der schmerzlich intensive Wunsch herausklang, seinem ältesten Enkel eine weitere Erkenntnis zu vermitteln. Er verstummte, und ich wartete darauf, dass er fortfuhr: „Dann danke ich Gott.“
(Fortsetzung folgt)