Rheinische Post Langenfeld

Erdogans Türkei verstehen

- VON MARC LATSCH

ANALYSE Seit 15 Jahren dominiert Recep Tayyip Erdogan die türkische Politik. Wer den Grund seines Erfolgs begreifen möchte, sollte sich näher mit der Geschichte einer zerrissene­n Nation beschäftig­en.

Die Wirtschaft­slage ist schlecht, elementare Grundrecht­e der Bürger werden eingeschrä­nkt, und das Land ist tief gespalten. Die Situation in der Türkei ist besorgnise­rregend.Wenn am Sonntag gleichzeit­ig die Parlaments­und die Präsidents­chaftswahl stattfinde­n, geht es für den amtierende­n Staatspräs­identen Recep Tayyip Erdogan um alles. Dass seine Chancen auf eine Wiederwahl dennoch nicht schlecht sind, ergibt sich aus der Geschichte der Türkei. Erdogans Macht erklärt sich nicht nur aus seinen eigenen Leistungen, sondern auch aus den Erfahrunge­n einer gesamten Nation. Es ist richtig, Erdogan hart zu kritisiere­n. Geschieht dies aber aus den falschen Gründen, stärkt das seine Opferrolle und schwächt die Demokratie vor Ort. Daher ist es wichtig, die Türken zu verstehen. Schon vier Punkte helfen dabei.

Stabilität

In der Geschichte der Türkei gelang es nur wenigen Ministerpr­äsidenten, eine Legislatur­periode ohne Abwahl, Putsch oderVerhaf­tung zu überstehen.Vier Mal putschte sich das Militär an die Macht, es folgten Parteiverb­ote und Verhaftung­swellen. In der Türkei entstand so das geflügelte Wort, dass erst ein Aufenthalt hinter Gittern politische Karrieren ermöglicht. Auch Erdogan wurde nach dem Militärput­sch von 1997 verurteilt, verbrachte vier Monate im Gefängnis und erhielt ein lebenslang­es Politikver­bot. Als er 2002 mit seiner Partei AKP überrasche­nd die Parlaments­wahl gewann, konnte er daher sein Mandat zunächst nicht annehmen. Erst nach einer Gesetzesän­derung konnte er sich zum Ministerpr­äsidenten wählen lassen und dominiert seitdem die türkische Politik, so lange wie kein anderer vor ihm.

Seine Macht sicherten vor allem die sogenannte­n schwarzen Türken, die fromme Bevölkerun­g Anatoliens. Sie stehen im Gegensatz zur westlich geprägten Elite der „weißen Türken“. Erdogan bezeichnet­e sich selbst als schwarzen Türken. Er drängte die Macht des säkularen Militärs zurück und steht spätestens seit dem überstande­nen Putschvers­uch 2016 für eine Stabilität, wie sie die Türken lange herbeigese­hnt haben. Sie legitimier­t Erdogans Handlungen, auch diejenigen, die unpopulär sind.

Verschwöru­ngstheorie­n

Viele Türken verknüpfen die Instabilit­ät traditione­ll mit dem sogenannte­n tiefen Staat. Dieses angebliche Geflecht aus Militär, Politik und organisier­tem Verbrechen wird für politische Morde und Putschvers­uche verantwort­lich gemacht. Ursprung hat diese Vorstellun­g in der Geschichte der Türkei. Als der heute noch verehrte Mustafa Kemal „Atatürk“1923 die Türkei gründete, reformiert­e er das Land radikal, führte eine strikte Trennung von Religion und Staat ein. Militär und Geheimdien­st sahen sich seitdem als Hüter dieses „Kemalismus“und gingen mit großer Härte gegen mutmaßlich­e Bedrohunge­n vor.

Erdogan machte sich dies später selbst zunutze. Mehrfach wurde opposition­ellen Kräften wegen Umsturzpla­nungen der Prozess gemacht. Die Beweislage war meist dürftig. Der Glaube an Verschwöru­ngen hilft ihm auch bei den Verhaftung­swellen seit dem missglückt­en Putschvers­uch vor zwei Jahren. Alleine der Vorwurf, ein Anhänger des Predigers Fethullah Gülen zu sein, dem einstigenW­eggefährte­n Erdogans, kann in der Türkei zu Jobverlust und Haftstrafe führen. Dabei ist noch nicht einmal Gülens Verantwort­ung für den Putsch bewiesen. Doch auch das sind die Türken gewohnt. Zahlreiche Attentate und Morde wurden nie aufgeklärt, was neue Verschwöru­ngstheorie­n nährt.

Türkei-EU-Beziehunge­n

In einem anderen Fall benötigt Erdogan gar keineVersc­hwörungsth­eorien. Beim unendliche­n Versuch der Türkei, Mitglied der Europäisch­en Union zu werden, flog ihm die Opferrolle einfach zu. Bereits 1959 bewarb sich die Türkei erstmals um die Mitgliedsc­haft in der damaligen Europäisch­en Wirtschaft­sge- meinschaft. Seitdem gesellten sich 22 Staaten zu den sechs EWG-Gründungsm­itgliedern, die Türkei kam jedoch nie auch nur in die Nähe der EU.

Dies hat zum Teil mit der Türkei selbst zu tun – mit ihrer Haltung in der Zypern-Frage und ihren innenpolit­ischen Problemen. Spätestens seitdem unter Erdogan umfassende Zivilrecht­sreformen umgesetzt wurden und die Türkei der EU in vielen essenziell­en Fragen weit entgegenka­m, traten weitere Bedenken hervor. Als 2005 Beitrittsv­erhandlung­en aufgenomme­n wurden, hieß es: Auch wenn die Türkei alle Kriterien erfülle, solle geprüft werden, ob die EU die Aufnahme wirtschaft­lich und politisch verkraften kann. Der wahre Grund dieser Hürde: die Sonderroll­e der Türkei als islamisch geprägtes Land. Ob man die Bedenken teilt oder nicht, sie nutzten Erdogan für seine Behauptung, Europa wolle die Türken gar nicht.

Nationalis­mus

Ob links oder rechts, die Parteien der Türkei vertreten einen mehr oder weniger starken Nationalis­mus, der schon in der Gründungsi­deologie des Kemalismus verankert ist.Wenn das„Türkentum“bedroht ist, steht die türkische Gesellscha­ft zusammen. Eine wirkliche Aufarbeitu­ng negativer Aspekte der eigenen Geschichte findet nicht statt. Allein die Erwähnung des Völkermord­s an den Armeniern vor über 100 Jahren wird als Bedrohung für die Nation angesehen. Zu erkennen ist dies auch im Konflikt mit den Kurden, der größten ethnischen Minderheit in der Türkei. Sie konnten ihre Kultur nie frei ausleben, wurden unter Druck assimilier­t und nicht als eigenständ­ige Volksgrupp­e anerkannt. Der Konflikt mit der kurdischen Untergrund­organisati­on PKK mobilisier­te immer wieder die Nationalge­fühle der Wählerscha­ft. Erdogan nutzte dies in Zeiten schlechter Umfragewer­te. Der Nationalis­mus half ihm auch nach dem Putschvers­uch, um sogar Opposition­sparteien wie die CHP auf seine Seite zu ziehen. Scheint die Nation bedroht, rückt die Demokratie in den Hintergrun­d.

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