Warum Özil in das DFB-Team gehört
Der Spielmacher ist Löws Lieblingsschüler. Das passt nicht jedem. Die Zahlen sprechen für den Deutsch-Türken.
SOTSCHI Inzwischen haben fast alle gesprochen. Der Bundestrainer, der Bundespräsident, der DFB-Präsident, der Teammanager, die Mitspieler, sogar Ilkay Gündogan. Sie haben sich zur Foto-Affäre um die türkischstämmigen Nationalspieler Mesut Özil und Gündogan geäußert. Sie haben versucht zu erklären, was die beiden bewogen haben könnte, sich vom türkischen Präsidenten Recep Erdogan zu Wahlkampfzwecken missbrauchen zu lassen. Sie haben gedeutet, beschwichtigt, entschuldigt. Nur Mesut Özil hat bis heute nicht gesprochen. Kein Wort.
Das ist der tiefere Grund dafür, dass sie nun nach einem schlechten Spiel gegen Mexiko über ihn herfallen, die Mario Baslers dieser Welt, dass sie erneut über die Körpersprache dieses Bewegungs-Melancholikers ätzen, dass sie ihn einen Spieler der traurigen Gestalt nennen, oder dass sie wie Basler noch heftigere Geschütze auffahren („seine Körpersprache ist die von einem toten Frosch“). Noch nie wurde der Fußballer Özil so hart und so unfair attackiert wie zum Auftakt dieserWM.
Dabei ist er an Härte gewöhnt. Alle Jahre wieder, wenn ein großes Turnier beginnt, machen die Özil-Kritiker seine Körpersprache zum Thema. Weil er den Kopf oft hängen lässt, vornübergebeugt zu schlendern scheint, weil seine ganze schmale Figur selten gestrafft daherkommt, unterstellen ihm sogar Experten mangelndes Interesse am Spiel und allgemeine Lustlosigkeit. Sie nennen ihn eine Mimose, wenn er in Zweikämpfen, die seiner Meinung nach unfair geführt werden, mal kurz den Betrieb einstellt und beleidigt zum Schiedsrichter schaut. Bei jedem großen Turnier suchen sie nach Gründen, ihn aus der Nationalmannschaft zu reden. Die Foto-Affäre hat ihnen einen ideologischen Grund geliefert. Der ist allemal stärker als alle sportlichen Argumente. Denn es gibt keine sportlichen Argumente.
Als Özil noch sprach, da hat er sich gegen die Deutung seiner Körpersprache gewehrt. „Das ist eine persönliche Sache“, sagte er vor zwei Jahren bei der EM in Frankreich,„jeder steckt in seiner Haut.“Einer sei- ner Entdecker, der Schalker Jugendtrainer Norbert Elgert, sprang ihm wiederholt zur Seite. „Mesut ist ein hervorragender Fußballer“, betonte er, „seine Körpersprache wird falsch gelesen und interpretiert. Er ist immer zu 100 Prozent bei der Sache.“
Statistiken unterstreichen das. Selbst in dem ganz schlechten Spiel gegen Mexiko hatte er eine Passquote von 91 Prozent, beinahe alle Bälle, die er spielte, kamen an. Dass dabei viel zu viele Rück- und Querpässe waren, liegt an einem unsortierten Auftritt der ganzen Mannschaft, Özil eingeschlossen. In den viel besseren Vorstellungen, von denen es im Laufe der Jahre eine ganze Menge gegeben hat, lieferte Özil im vorderen Mittelfeld zuverlässig Bestleistungen. Seine Pässe kommen an, und er lenkt das Spiel auf eine manchmal fast unsichtbare Art. Oft entdeckt er Räume, die andere nicht sehen oder nicht spüren, und wenn er keine Torvorlagen gibt, dann steckt er maßgeblich im Kombinationsweg. Manchmal reicht eine zarte Ballberührung, dem Spiel einen Richtungswechsel, einen anderen Rhythmus zu geben. Es lohnt sich fast immer, Spiele mit Özils Beteiligung zweimal anzuschauen. Es gibt meistens etwas zu entdecken.„Ich versuche Lösungen zu finden, bevor ich den Ball habe“, hat er bei einem seiner seltenen Interviews gesagt.
Seine Trainer und seine Mitspieler kennen diese Fähigkeiten. Sie gestehen ihm zu, in manchen Spielen phasenweise abzutauchen, sie interessieren sich nicht für Özils traurige Gestalt, seine mangelhafte Öffentlichkeitsarbeit, seinen flackernden, unsicheren Blick. Sie wissen, dass er geniale Momente auf den Platz bringt. Sie brauchen ihn. Deshalb ist Özil, der Spielmacher, in der Nationalmannschaft bei Joachim Löw gesetzt. Böse Menschen erklären die Treue mit der Tatsache, dass beide von derselben Beratungsfirma betreut werden. Dafür gibt es aber keinen Beweis. Sicher ist: Seit der WM in Südafrika stand Özil in allen 26 Spielen bei großen Turnieren in der Startelf. Weltrekord.
Er kann ja nichts dafür, dass er nicht aussieht wie ein Rekordmann. Die Lobpreisungen seiner Taten überlässt er dankbar dem Management. Auf seinerWebsite verweist es
“Seine Körpersprache wird falsch gelesen und interpretiert. Er ist immer zu 100 Prozent bei
der Sache“
Norbert Elgert
Özils Jugendtrainer
stolz darauf, dass er in seiner gesamten Nationalmannschafts-Karriere nur sehr selten einen Fehlpass gespielt hat. Die Quote liegt ganz nah an 90 Prozent. Mit solchen Daten begründen seine Manager die Marke Özil. Der scheue Mann ist auch durch die Bemühungen seiner Berater ein Weltstar in den sozialen Netzwerken. 60 Millionen Fans folgen ihm bei Twitter, Facebook und Instagram.
Nur mit seinem Fußball könnte er solche Popularitätswerte nicht erreichen. Vielleicht ist der Hype, den seine Firma inszeniert, auch das Problem, das Özil nun in der öffentlichenWahrnehmung so tief stürzen lässt. Und es tut ihm sicher nicht gut, dass seine Agenten ihm Weisheiten zudichten, die er nie formulieren würde. Beim polnischen Mathematiker Hugo Steinhaus entdeckten sie den schönen Spruch: „Warum soll ich dieWelt bezwingen, wenn ich sie mit Mathematik verzaubern kann.“Das mit der Mathematik ließen sie weg. Und sie schrieben ihrem Klienten auf dieWebseite:„Warum soll ich dieWelt bezwingen, wenn ich sie verzaubern kann.“
Sie hätten sie ihm lieber eine Erklärung zu seiner Fotosession geschrieben. Die alljährliche Diskussion über Körpersprache und Teilnahmslosigkeit hätten sie ihm damit zwar nicht erspart. Sie wäre allerdings ganz sicher weniger unfair ausgefallen.