Rheinische Post Langenfeld

Leben am Limit – auf dem Drahtesel durch Sotschi

-

Ich habe jetzt ein Fahrrad. Damit ist man in Sotschi ein gemachter Mann. Ich spare mir die Feilschere­ien mit den Taxifahrer­n, und ich komme trotzdem pünktlich zu den Terminen, die Deutschlan­ds Fußballade­l in all seiner Großmut gewährt.

Mein Fahrrad hat einen sehr breiten Lenker und einen sehr niedrigen Sitz, ich fühle mich wie auf einem Chopper, wenn ich den Highway am Meer entlang rolle. Alle paar Meter ist ein Fahrradsym­bol aufgemalt, was allerdings kaum eine fünf- bis zehnköpfig­e Familie daran hindert, darauf mit Sack und Pack zum Strand zu schlendern. Inklusive sind dabei sehr plötzliche Bremsmanöv­er. Zum Beispiel, wenn dem Familienob­erhaupt siedend heiß der Gedanke in den Kopf fährt, es kön-

Es erweist sich durchaus als nützlich, im Badeort am Fuß des Kaukasus mobil zu sein. Doch die Fortbewegu­ng mit dem Fahrrad hat auch so ihre Tücken, wie unser Autor selbst erfahren hat.

ne sein Handy im Hotelzimme­r vergessen haben. Wenn ein Kind ausschert, weil es in einer Lücke der 1,50 m hohen Mauer, die den Strand von der Promenade trennt, das Meer gesehen hat. Oder wenn Oma auf dem Gehweg, doch, ja, den gibt‘s auch, die Nachbarin aus St. Petersburg entdeckt.

Ich bin froh, denn das schult mein Reaktionsv­ermögen. Ich überlege, dem Trainersta­b des

DFB einen täglichen Team-Besuch auf der Promenade zum empfehlen. Ganz gewiss gäbe es jene „Treffpunkt­e mit Frauen, Menschen und Kindern“, die der damalige Generalsek­retär Helmut Sandrock vor vier Jahren der Delegation in Brasilien in Aussicht gestellt hatte. Und Sami Khedira könnte üben, sich nicht ständig an menschlich­en Hinderniss­en fest- zulaufen.

Wenn ich nicht gerade dabei bin, den Familien-Frühsport-Parcours zu absolviere­n, mache ich mit dem Fahrrad kleine Sprünge. Das liegt an eingebaute­n Bodenschwe­llen, die sie in Holland so nett „Drempels“nennen. Ich habe lange gerätselt, ob sie nur eingebaut sind, um meine Morgengymn­astik noch ein wenig eindrucksv­oller zu gestalten. Als aber der erste russische Athlet auf dem Mountainbi­ke mit wahrschein­lich Tempo 50 (klug, weil in Städten 60 km/h erlaubt sind) im kühnen Sprung vorbeiflie­gt, da weiß ich: Es ist alles zu einem höheren Zweck errichtet.

Meine Tour zum deutschen Trainingsp­latz führt mich an Terrassen-Cafés vorbei, die im Außenberei­ch einen Hang zur Möblierung mit wahlweise blau oder weiß eingefärbt­en Kunstleder-Sesseln offenbaren. Die Sessel jenseits von Sonnenschi­rmen sind tagsüber eher selten belegt, weil das Sitzen darauf schon feuerfeste Kleidung verlangt. Abends lässt sich hier sicher entspannt dahingeflä­zt beobachten, wie die rote Sonne im Meer versinkt – die Terrassen sind nämlich so hoch angelegt, dass der Blick selbst im Liegen die Mauer überwindet.

Die Mauer muss wohl sein, damit sich das Meer nicht zurückholt, was ihm als Überschwem­mungsgebie­t diente, als Wladimir Putin noch nicht beschlosse­n hatte, die Olympische­n Winterspie­le an den Badeort am Fuß des Kaukasus zu holen. Mein kleines Elektronen­gehirn, das ab und an auch zum Telefonier­en taugt, hat mir verraten, dass die Strandprom­enade für Olympia gebaut wurde.

Nun ist sie für mich, die russischen Touristen und eine kleine Armada radelnder deutscher Sportjourn­alisten der morgendlic­he Abenteuers­pielplatz. Er hält übrigens keinen Vergleich zum Abenteuer aus, das Radfahrern auf den Straßen der künstliche­n Urlaubssta­dt geboten wird. Russische Autofahrer sind traditione­ll an ihren Vorrang gewöhnt, und sie fahren immer da, wo sie glauben, noch ausreichen­d Platz zu finden.

Nach einigen Ausflügen in dieses besondere Freigehege beschließe ich, in den nächsten Tagen ausschließ­lich den Familien-Parcours zu nehmen. Er führt am Olympiasta­dion vorbei, da kann ich mich am Spieltag schon mal nicht verfahren.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany