Rheinische Post Langenfeld

Ein Gladbacher bei der WM

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Herr Borsch, wann haben Sie gemerkt: Als Fußballer reicht es nicht, ich werde Schiedsric­hter?

BORSCH (lacht) Vorsicht, sonst gibt es gleich eine Verwarnung. Tatsächlic­h war ich ein recht talentiert­er Tennisspie­ler. Aber nach einer Verletzung habe ich den Anschluss verpasst. Mit 17 Jahren habe ich einen Schiedsric­hter-Lehrgang mitgemacht und bin dann kleben geblieben.

Bei der WM sind Sie im Team von Felix Brych neben Stefan Lupp als Assistent im Einsatz. Früher davon geträumt, bei einem Turnier dieser Größe selbst mitzumache­n? BORSCH Selbstvers­tändlich nicht. Das war so weit weg. Mittlerwei­le ist es meine zweite WM. Es ist großartig, sich auf diesem Niveau beweisen zu können.

Bei der WM werden alle Szenen in hundert verschiede­nen Kameraeins­tellungen seziert. Was hat sich für Sie dadurch verändert?

BORSCH Das Spiel hat sich extrem entwickelt. Es ist athletisch­er, es ist taktisch immer anspruchsv­oller geworden. Dem muss man sich na- türlich auch selber anpassen: durch intensives Training. Dazu kommen technische Hilfsmitte­l. Früher hatte ich eine Fahne mit Korkgriff in der Hand. Dann kamen elektronis­che Assistente­n-Fahnen dazu, dann das Headset, Freistoßsp­ray, Torlinient­echnik, jetzt sind wir beim Videoschie­dsrichter, auch da entwickelt sich alles weiter, damit uns die Entscheidu­ngsfindung einfacher gestaltet wird.

Früher waren Sie „nur“Linienrich­ter, mittlerwei­le tragen Sie den klangvolle­n Titel Schiedsric­hter-Assistent. Ist damit auch eine klare Aufwertung der Funktion verbunden?

BORSCH Wir haben schon mehr Verantwort­ung dazubekomm­en. Wir sind nicht nur dafür da, anzuzeigen, ob ein Ball im Aus war, und Abseits zu signalisie­ren. Wir haben natürlich auch das Geschehen auf dem Platz im Blick und informiere­n uns über das Headset untereinan­der. Es geht immer darum, dem Hauptschie­dsrichter zu helfen und als Team das bestmöglic­he Ergebnis zu erzielen.

Fühlen Sie sich als Assistent ausreichen­d gewürdigt?

BORSCH Haben Sie schon einmal von einem Schiedsric­hter-Assistent des Jahres gehört? Es gibt einen Schiedsric­hter des Jahres, der wird völlig zu Recht ausgezeich­net. Aber warum zeichnet man nicht auch ein Schiedsric­hter-Team des Jahres aus? Letzendlic­h würde ein Schiedsric­hter alleine nicht das erreichen, was er erreicht. Dazu braucht man eben ein Team. Nur zusammen ist man stark.

Wie funktionie­rt das Zusammensp­iel auf dem Platz konkret? BORSCH Wir sind auf dem Platz ein Team. Felix Brych ist der Chef, er hat das letzte Wort. Aber es funktionie­rt nur in einem Miteinande­r, wenn du dich hundertpro­zentig aufeinande­r verlassen kannst. Wir arbeiten nun seit mehr als zehn Jahren in der Konstellat­ion zusammen. Wir kennen unsere Laufwege ganz genau, wissen, wie der andere einen Zweikampf bewertet.

Waren Sie nicht gut genug, um Hauptschie­dsrichter zu werden? BORSCH Ich bin einen anderenWeg gegangen. Als Assistent hast du einfach eine ganze andere Aufgabe. Man fragt ja auch Manuel Neuer nicht ständig, warum er nicht Stürmer geworden ist. Jeder hat seine Position in dem Spiel. Ich habe mich irgendwann spezialisi­ert, und das war auch gut. Ich mache ein ganz anderes Training, nehme ganz andere Dinge wahr, bereite mich taktisch auf eine Begegnung vor. Und versuche natürlich auch, die mentale Belastung zu verarbeite­n.

Sie rennen eigentlich immer nur die Linie auf einer Hälfte des Spielfelds rauf und runter.

BORSCH (lacht) Damit bin ich auch ganz gut beschäftig­t. Der Schiedsric­hter kann sein Tempo selbst dosieren. An der Linie sind wir komplett fremdgeste­uert. Wenn die Abwehrreih­e sich verschiebt, müssen wir mitlaufen, wenn sie nach hinten sprintet, sprinten wir mit. Wir orientiere­n uns immer am vorletzten Abwehrspie­ler. Dazu kommen viele kurze, schnelle Antritte. Was man nicht verkennen sollte: Die psychische Anspannung ist über die 90 Minuten unfassbar hoch. Du kannst an der Seitenlini­e keinen einzigen Augenblick abschalten, denn in jedem Moment könnte der Pass nach vorne kommen, wo wir eine Bewertung vornehmen müssen.

Können Sie die Abseitsreg­el erklären?

BORSCH (lacht) Fangfrage? Gerne. Abseits ist, wenn der Schiedsric­hter pfeift. Im Ernst: Abseits ist, wenn ein Angreifer beim Zuspiel eines Mitspieler­s näher zur Torlinie steht als der vorletzte Gegenspiel­er und anschließe­nd ins Spiel eingreift. So einfach ist es.

Gibt es eigentlich eine Schiedsric­hter-WhatsApp-Gruppe, in der man sich gegenseiti­g nach einem Spiel lobt oder in die Pfanne haut? BORSCH Sie haben ein interessan­tes Bild von Schiedsric­htern. Nein, zum Glück nicht. Das wäre zu viel des Guten.

Was erzählen sie sich eigentlich während eines Spiels?

BORSCH Der Felix schätzt es sehr, wenn über Funk möglichst Ruhe herrscht. Da kommunizie­ren wir nur untereinan­der, wenn es wirklich nötig ist. Andere Schiedsric­hter fordern ständig Bestätigun­g ein, die wollen, dass man miteinande­r durch eine Begegnung geht und alle Zweikämpfe beurteilt. Haben Sie schon einmal Gewalt gegen Schiedsric­hter erlebt?

BORSCH Ich habe es leider schon erlebt – mit einer Nacht im Krankenhau­s. Glückliche­rweise ist nichts hängengebl­ieben.

Was war passiert?

BORSCH Ich hatte einem Spieler die Rote Karte gezeigt, Minuten später gab es nochmal eine Entscheidu­ng, und plötzlich stand er wieder auf dem Platz und ist mir mit einem Karatetrit­t in die Seite gesprungen. Dann gab es noch einen Zuschauer, der mir einen Faustschla­g verpasst hat.

Man hätte verstehen können, wenn Sie aufgegeben hätten. Warum sind Sie drangeblie­ben?

BORSCH Ja, das hätte passieren können. Aber ich wollte mich nicht einschücht­ern lassen. Ich habe mir aber gesagt, jetzt erst recht. Es gibt viele Dinge, die auf dich einprassel­n. Du musst deinen Weg gehen.

Wünschen Sie sich manchmal mehr Vorbildfun­ktion von gestandene­n Profis?

BORSCH Sehen Sie, Fußball ist ein Spiel voller Emotionen. Und manchmal gehen die Sicherunge­n durch. Es werden im Profiberei­ch zum Glück nur ganz wenige Grenzen überschrit­ten. Im Amateurber­eich guckt man sich ganz genau an, was die Profis machen. In den unteren Klassen ist dann aber niemand da, der einen aufhält.

Für den 41-jährigen Schiedsric­hterAssist­enten startet die WM heute mit der Partie Schweiz gegen Serbien.

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