Immer im Dienst
Gesundheitsminister Jens Spahn will die Sprechstundenzeiten der Ärzte ausweiten. Für drei Medizinerinnen in Wipperfürth ist das der falsche Weg – sie arbeiten ohnehin schon am Limit. Nicht nur in der Praxis. Unterwegs mit einer Ärztin auf Hausbesuch.
WIPPERFÜRTH An erster Stelle steht immer der Patient. Wenn sein Wohl und die Lage es erfordern, fackelt Gabi Bauer nicht lange. Notfalls klettert die Ärztin auch mal übers – ebenerdige – Balkongeländer, weil die Haustür abgeschlossen ist. Der bettlägerige Mann und seine Frau sprechen nur Italienisch, ein am Vortag aus der Praxis herbeizitierter Dolmetscher ist nicht erschienen. Bauer und Arzthelferin Daria Omlor kommen trotzdem klar, irgendwie. Sie kennen solche Situationen, sie wissen sich zu helfen. Am Ende haben sie, was sie wollten. Den Insulinwert des Patienten, seinen Blutdruck und, besonders wichtig, ein Bild seines Gesamtzustands. Der, gelinde gesagt, miserabel ist. „Die eigentliche Arbeit“, sagt Bauer, „fängt in solchen Fällen erst nach dem Hausbesuch in der Praxis an.“
Hausbesuch. Das hört sich in digitalen Zeiten fast vorgestrig an, ist aber für immobile und schwer kranke Patienten, vor allem in ländlichen Regionen, oft der einzigeWeg, einen Arzt zu Gesicht zu bekommen.Während nach einer aktuellen Untersuchung die Zahl der Hausarztbesuche bundesweit zurückgeht, auch weil die Vergütungen dafür gering sind, prognostiziert Susanne Jakobeit für ihreWipperfürther Gemeinschaftspraxis eher einen gegenläufigen Trend. „Die Menschen werden älter und immobiler“, sagt die 49-Jährige. „Also müssen wir künftig noch häufiger raus.“Momentan betreuen die drei Ärztinnen in der Praxis rund 80 Patienten in deren eigenen vierWänden, proWoche etwa 20. Das heißt, je nach Krankheit kommt alle vier bis sechs Wochen ein Mediziner zu Hause vorbei. Arbeit, die in der Praxis zusätzlich anfällt, die organisatorisch aufwendig ist und Personal bindet. Dabei kann sich das Ärzte-Team über zu wenig Arbeit nun wirklich nicht beklagen.
Patientin Ingrid Tabbert freut sich, wenn Gabi Bauer nach ihr sieht, bietet gleich einen Kaffee an. Dafür ist zwar keine Zeit. Für ein Pläuschchen en passant schon. Das sei immer drin, müsse drin sein, sagt die Allgemeinmedizinerin. Schließlich sei man oft der einzige soziale Kontakt des Tages. Tabbert weiß das zu schätzen. „Für mich ist das eine Steigerung der Lebensqualität“, sagt die 81-Jährige.„Denn ich könn- te gar nicht mehr allein zum Arzt.“Genausowenig wie Marianne Benninghaus. Die 90-Jährige hat ein geschwollenes Bein, kann schlecht laufen. Ihr Sohn kümmert sich um sie, organisiert das tägliche Leben. „Wenn Angehörige helfen, das ist schon extrem wichtig“, sagt Bauer. „Das macht den Unterschied.“
In der Praxis muss Susanne Jakobeit unterdessen zusehen, dass sie sich angesichts des vollen Wartezimmers nicht verzettelt. Sie und ihre Kolleginnen arbeiten Teilzeit, Jakobeit fünfmal sechs Stunden. Auf dem Papier. Von 7.30 Uhr bis 12 Uhr ist Jakobeit für die Patienten zu sprechen, danach muss sie Laborbefunde sichten, Facharztbriefe aufsetzen, Patientenakten öffnen, mit Kollegen über Fälle diskutieren. „Das geht nicht selten bis 16 Uhr“, sagt sie. Die Nachmittagssprechstunden übernehmenVertretungsärzte, bei akuten Fällen muss auch mal der Kardiologe ran. Ohne ein verständiges Team, was die Arzthelferinnen mit einschließt, wäre so eine Organisation gar nicht zu stemmen, sagt Jakobeit. Für die fünffache Mutter war das zudem eine Voraussetzung, um den Beruf überhaupt ausüben zu können.
Den Vorschlag von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), die Sprechstundenzeiten gegen höheres Honorar von derzeit 20 auf 25 pro Woche zu erweitern, hält sie für vollkommen wirklichkeitsfern. „Das ist die Idee eines Schreibtischtäters“, sagt sie. Nur eine geregelte Sprech- stundenzeit schütze die Ärzte vor dem Kollaps, davor, noch länger zu arbeiten. Viele Vollzeit-Kollegen hätten ihre Sprechstundenzeiten ohnehin schon ausgeweitet, würden bis abends um 22 Uhr in der Praxis sitzen. Und damit ihre eigene Gesundheit aufs Spiel setzen. „Wir wollen nicht mehr verdienen, sondern eine geregelte Freizeit haben, Familie und Beruf unter einen Hut bringen“, sagt Jakobeit. „Das ist unser Problem.“
„Wir wollen nicht mehr verdienen, sondern Familie und Beruf unter ei
nen Hut bringen“
Susanne Jakobeit
Allgemeinmedizinerin
Auf der Tour geht es derweil hinaus aufs Land, an Reiterhöfen vorbei und durch bergische Bilderbuchlandschaften. Für das idyllische Panorama hat Bauer aber wenig übrig, obwohl Helferin Daria Omlor am Steuer sitzt. Die Ärztin studiert lieber Patientenakten. Wie hat der Zucker sich entwickelt, wie der Blutdruck, welche Medikamente sind fällig? Wo kann man sich auf Angehörige verlassen, wer könnte Probleme bereiten?
Nicht, dass Bauer davor zurückschrecken würde. Die 45-Jährige besitzt eine direkte, zugewandte Art, weiß die Menschen mit einem herzlichen Spruch schnell für sich einzunehmen. Die Ärztin hat ein offenes Ohr für Beschwerden, fragt nach, hört zu, schaut genau hin. Sie hat ihren Blick über die Jahre geschult für Abweichendes, für Kleinigkeiten jenseits der Norm. Besser, man sieht zweimal hin, weil es sonst keiner tut, lautet ihre Devise. Achtet der Patient genug auf sich, wirkt er verwirrt, ist die Wohnung gepflegt? Nimmt er regelmäßig seine Medikamente? Eine Patientin fährt in ihrem Rollator-Körbchen mindestens 20 Tablettenschachteln spazieren, ein anderer trinkt so wenig, dass seine Haut so unelastisch ist wie Knetmasse. Für Gabi Bauer ein Grund, um freundlich, aber bestimmt nachzuhaken. Fünf bis zehn Minuten dauert so ein Hausbesuch im Schnitt, sehr wenig Zeit also für eine gründliche Diagnose. Aber genug, um auch mal danebenzuliegen. Oder einfach den falschen Zeitpunkt zu erwischen.