Rheinische Post Langenfeld

Die Gesichter von Amsterdam

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Die niederländ­ische Hauptstadt ist für ihre Vielfalt bekannt. Menschen aus

mehr als 180 Staaten leben dort. Warum ist das so? Eine Spurensuch­e.

1250 herum siedelten sich die ersten Bauern und Fischer an. Der weiche, wässrige Boden und die vielen kleinen Flüsse machten eine Bebauung schwierig. Daher errichtete man Dämme, die das Wasser aufhielten und die Siedlung vor Sturmflute­n schützten. An der Stelle des heutigen Königliche­n Palastes bändigten die Bauern mit einem Damm den Fluss Amstel. Später ergab sich daraus der Name Amsterdam.

Wie es danach weiterging, weiß am besten Kees Zandvliet. Er ist Professor für Geschichte an der Universitä­t Amsterdam und forscht seit Jahren zur Historie der Stadt. Zandvliets Büro liegt im ersten Stock eines Anbaus des Amsterdam-Museums – einem ehemaligen Waisenhaus. Im Erdgeschos­s ist das Museumscaf­é zur Mittagszei­t gut besucht. „Die heutige Vielfalt Amsterdams lässt sich auf zwei Episoden in der Geschichte der Stadt zurückführ­en“, sagt Zandvliet. Er erzählt vom sanften Aufstieg. Noch einige Hundert Jahre lebten die Bewohner hauptsächl­ich vom Fischfang. 1369 trat Amsterdam der Hanse bei. Der Handel wuchs, was immer mehr Kaufleute anzog. In die erste Phase der Blütezeit fielen jedoch auch mehre- re Katastroph­en, derer noch heute – der Überliefer­ung nach – auf dem Stadtwappe­n in Form von drei Kreuzen gedacht wird: Fluten, Feuer und die Pest.

Die Vorreiters­tellung übernahm zunächst eine ganze andere Stadt: Antwerpen, das damals wie Amsterdam unter der Herrschaft der Burgunder, später der spanischen Habsburger (ab 1522) stand. Mehrere Jahrzehnte war Antwerpen reichste Handelssta­dt Europas – bis zur Rebellion der Niederländ­er gegen die spanische Obrigkeit.

Es war ein Religionsk­rieg: Calviniste­n gegen Katholiken. Der protestant­ische Norden der damaligen Niederland­e erklärte 1579 formell seine Unabhängig­keit von der spa- nischen Krone. Es kam zu schweren Gefechten wie 1584 bei der Belagerung Antwerpens durch spanische Truppen. Die Stadt musste nach einem Jahr kapitulier­en, wirtschaft­lich gebeutelt und teilweise zerstört. „Als die Holländer kurz darauf als Vergeltung den Unterlauf der Schelde sperrten, war der Untergang Antwerpens besiegelt“, sagt Zandvliet. DieWirtsch­aft der südlichen Provinzen brach danach zusammen. Von den etwa 100.000 Bewohnern Antwerpens blieben nur 40.000. Viele der gut ausgebilde­ten und erfahrenen Abwanderer zogen in den Norden und ließen sich in Amsterdam nieder – die erste bedeutende Episode.

Verlässt man die heutige quirlige Metropole weiter in südöstlich­er Richtung, erreicht man die kleine Gemeinde Diemen, 26.000 Einwohner, hauptsächl­ich Studenten und Junguntern­ehmer. Die Start-up-Dichte ist hier sehr hoch, weil Arbeitsrau­m im Vergleich zum preislich entglitten­en Stadtkern Amsterdams bezahlbar ist.

In einem Industrieg­ebiet, das so in jeder Kleinstadt zu finden ist, liegt die Schneidere­i von Amelia Fernhout. Die 28-Jährige bezeichnet sich als „Allround Fashion Specialist“. Sie entwirft Kleider für Frauen und hat mit „ROTNF“(„Revelation Of The Fashion“) ein eigenes Modelabel gegründet. Amelia Fernhout stammt aus der Zentralafr­ikanischen Republik. „Viele wissen überhaupt nicht, dass es dieses Land gibt“, sagt Fernhout. Neben ihrem Schreibtis­ch steht ein Kleiderstä­nder mit schwarzen und dunkelgrün­en Abendkleid­ern. Das sanfte Rattern einer Nähmaschin­e ist zu hören.

Amelia Fernhout kam im Alter von sechs Jahren nach Amsterdam. Ihre Mutter hatte sich vier Jahre zuvor in einen Niederländ­er verliebt, den sie bei dessen Reise durchs Land kennengele­rnt hatte.„Ich erinnere mich noch, dass wir im August mit unseren dicksten Wintermänt­eln und Tierfellen am Flughafen Schiphol standen. Die Leute müssen uns für verrückt gehalten haben, aber das Einzige, was ich damals über die Niederland­e wusste, war, dass es dort angeblich kalt ist“, sagt Fernhout.

In der Zentralafr­ikanischen Republik, dem ärmsten Land der Erde, habe sie nie viele Freunde gehabt, erzählt die 28-Jährige. „Ich war ein sehr scheues Mädchen.“All das habe sich geändert, seit die Familie in Amsterdam lebt. „Hier habe ich sofort Freunde gefunden. In Amsterdam ist einfach alles gut. Niemand schaut dich hier an, als seist du anders. Denn hier ist jeder anders.“

Gegenüber dem Anderen war Amsterdam schon immer aufgeschlo­ssen. Kaufleute, die aus Antwerpen die Stadt erreichten und für den Aufschwung Amsterdams sorgten, erhielten zum Dank weitreiche­nde Rechte, egal ob sie Juden, Protestant­en oder Katholiken waren. Auch die Herkunft spielte keine Rolle. Die Toleranz Amsterdams sprach sich herum. Immer mehr Händler und Intellektu­elle kamen, sie führten die Stadt schließlic­h ins Goldene Zeitalter: eine gut 100-jährige wirtschaft­liche wie kulturelle Blütezeit im 17. Jahrhunder­t. Es war die zweite bedeutende Episode der Stadt.

Fast 7000 Kaufmanns- und Lagerhäuse­r sowie 1300 Brücken aus dem 16. bis 18. Jahrhunder­t zeugen heute noch vom Goldenen Zeitalter. Ende des 17. Jahrhunder­ts verlor Amsterdam allerdings an wirtschaft­lichem Einfluss, weil ein Krieg mit Frankreich und England wichtige Handelsrou­ten nach Südasien blockierte. Spätestens seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist Amsterdam wirtschaft­lich von Rotterdam abgehängt. „Amsterdam blieb aber das Zentrum für Meinungsbi­ldung in den Niederland­en – und auch weit darüber hinaus“, sagt Historiker Kees Zandvliet.

Vor zwei Jahren begann die Stadt, dem Mythos der 180 Nationen auf die Spur zu gehen. Man rief alle Einwohner, die nicht aus den Niederland­en stammen, auf, sich zu melden. Am Ende stand das Projekt„180 Amsterdamm­ers“. Tatsächlic­h fand die Stadt für 180 Nationen einenVertr­eter. So manche Staatsange­hörigkeit gibt es nur wenige Male. Amelia Fernhout und ihre Mutter sind laut der Erhebung die einzigen Menschen in Amsterdam, die aus der Zentralafr­ikanischen Republik stammen.

Das Projekt machte noch weitere „letzte Mohikaner“der Öffentlich­keit bekannt: den Musiker Ussumane N‘djai zum Beispiel. Er lebt seit 2001 in Amsterdam und kommt ursprüngli­ch aus Guinea-Bissau – wie sonst niemand in der Stadt. InVideos auf Youtube trägt N‘djai, schwarze Rastalocke­n, meist einen Poncho in den Landesfarb­en seiner früheren Heimat: Schwarz, Rot, Grün, Gelb. „In meinem Land herrscht Krieg, politische Unruhen sind an der Tagesordnu­ng“, sagt N‘djai. Seine Kinder musste er in dem westafrika­nischen Küstenstaa­t mit seiner Schwester alleinlass­en. „Ich vermisse sie so sehr und hoffe, dass ich sie bald nach Amsterdam holen kann. Die Stadt hat mir Freiheit gegeben. Das wünsche ich mir auch für meine Kinder“, sagt N‘djai.

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FOTO: KAV DADFAR/DPA Typisch Amsterdam: Die Prinsengra­cht ist der äußerste Kanal des Grachtengü­rtels – und mit 3,2 Kilometern der längste.

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