Rheinische Post Langenfeld

Leben in der Kommune

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Gemeinscha­ften, in denen alles allen gehört, gibt es noch. Zum Beispiel die Sozialisti­sche Selbsthilf­e in Köln-Mülheim. Sie wurde 1979

gegründet als alternativ­es Projekt, in dem auch Menschen mit Behinderun­g und Obdachlose ein Zuhause finden. Ein Besuch.

funktionie­ren würde“, sagt Ranne, „bei uns sollte sich jeder einbringen dürfen, so gut er kann, das hat immer eine Balance ergeben.“

Wenn Rainer sich an die Anfänge 1979 erinnert, erzählt er von Räumungsbe­scheiden und Disziplina­rverfahren, von Menschen im Rollstuhl aus der Nachbarsch­aft, die mit in die Kommune zogen, und am Ende dafür sorgten, dass der Sozialdeze­rnent vor einer Räumung der besetzten Häuser zurückschr­eckte. Kein Politiker wollte Bilder verantwort­en, auf denen Menschen im Rollstuhl aus ihrem Zuhause geschoben wurden.

„Die angeblich Schwachen haben uns stark gemacht – Behinderun­g hat sich als soziale Kraft erwiesen“, sagt Rainer, und ein Lächeln zieht über sein Gesicht. Später wird er noch mehr Geschichte­n erzählen, in denen gelebte Utopien die Wahrheiten der Besitzstan­dswahrer widerlegen.

In der wilden Studentenz­eit hat Rainer Jura studiert, erst in Tübingen, München, dann in Köln. Dort hat er sich politisier­t, hat für sozialen Wohnraum und gegen geheime Bundeswehr­projekte protestier­t, Flugblätte­r verteilt und hatte bald so viele Strafverfa­hren am Hals, dass an die juristisch­e Karriere nicht mehr zu denken war. „Ich stand kurz vor dem Referendar­iat, aber ich wusste, wenn du das jetzt machst, gerätst

Ranne gegen Klüngel gekämpft, Menschen integriert, die auf dem sogenannte­n ersten Arbeitsmar­kt keine Chance haben.

Gerade soll in der direkten Nachbarsch­aft ein riesiger Innenhof bebaut werden, alte Garagen sollen verschwind­en. Eine Nachbarin hat sich dort eine Schmiede eingericht­et, nun fürchtet sie um ihre Existenz. Die Kommune bietet jede Woche Sozialbera­tung an, wenn dort solche Dinge zur Sprache kommen, wird Rainer aktiv. Dann druckt er Flugblätte­r wie in alten Zeiten, mobilisier­t die Nachbarsch­aft. „Das ist auch Teil unserer Arbeit“, sagt er.

Ihr Überleben sichert die Kommune durch Entrümpelu­ngen, verkauft gut erhaltene Dinge aus den Wohnungsau­flösungen im eigenen Laden und bei Ebay, vermietet Veranstalt­ungsräume auf dem Gelände, eine kleine Halle in der Nähe, ein paar Gästezimme­r unter dem Dach. Das reicht, um allen Mitglieder­n zwei Mal pro Woche 40 Euro auszuzahle­n – für den privaten Verbrauch. Staatliche Hilfen wie Hartz IV nimmt in der Kommune niemand in Anspruch.

Fragt man Ranne, was sie zufrieden macht, sagt sie: „Mit 70 noch gebraucht zu werden.“Rainer sagt: „Beim Aufstehen zu wissen, dass man etwas Vernünftig­es tun wird.“

Achim hat sich vor sieben Jahren in die SSM geflüchtet. Davor war er wegen eines Haftbefehl­s nach einer Schlägerei mit Neonazis abgetaucht, lebte zwölf Jahre auf der Straße. Eigentlich sei das eine gute Zeit gewesen, erzählt er, während er Essensrest­e von gestern aus einem Topf kratzt. „Ich bin mit einer Band rumgezogen, aber ich hatte halt die ganze Zeit Paranoia.“Um gebrauchte Schuhe zu kaufen, kam er in die SSM, fragte nach Arbeit, durfte bleiben. Und Rainer ging mit ihm die juristisch­en Probleme an.

Seit sieben Jahren gehört Achim nun fest zur Kommune. An diesem Tag hat er Büro- und Küchendien­st. Vor acht Uhr hat er schon für 30 Personen eingekauft, jetzt schnibbelt er Gemüse, setzt Reis auf, und schimpft, wenn schon wieder das Telefon klingelt, während im Hof die Teams für die Wohnungsau­flösungen noch rauchen, Kaffee trinken. „Ey, Euer Auftrag ist um neun“, ruft Achim aus dem Fenster.Verwirrung, wer mit wem auf welchem Lkw fährt, kurzes Rumgeschna­uze, dann fahren die Teams los. Es wird ruhig in der Kommune.

Fragt man Rainer, was er bereut, sagt er: „Dass ich in keine Rentenkass­e eingezahlt habe. Ich habe mein Leben für die Gesellscha­ft gearbeitet, aber die zahlt mir im Alter nichts zurück.“

Ein Foto aus den frühen 80er Jahren: Rainer mit langen Haaren auf einem selbst gebauten Lastenfahr­rad mit lachenden Kindern auf der Ladefläche. Ranne und er sind als Paar in die Kommune gegangen, haben drei Kinder großgezoge­n, heute leben sie getrennt auf dem Gelände. „Ich hatte gedacht, dass es einfacher ist, in der Lebendigke­it einer Kommune als Paar zu leben“, sagt Ranne, „wir haben es nicht geschafft.“Doch als Frau mit Kindern gleichwert­ig in der Kommune mitzuarbei­ten, das hat sie durchgeset­zt. „Ich wollte mir nicht abends von Rainer erzählen lassen, wie aufregend sein Tag war“, sagt Ranne. Sie ist dann auch Lkw gefahren, arbeitet bis heute im Laden mit und pflegt den verwunsche­nen Garten im Innenhof. Es gibt ein paar Hühner, eine Grillecke, Bauwagen zum Übernachte­n. In einer stehen zwei goldene Buddha-Statuen. Die wollten Leute eigentlich nur zwischenla­gern, aber dann wurden sie nie abgeholt. Nun heißt der Wagen „Betbude“, wird aber auch für Gäste genutzt.

Immer neue Menschen tauchen im Hof der SSM auf. Die Studentin aus Frankreich, Romane, die mal für ein Projekt in die Kommune kam und nun schon ein Jahr dort lebt. Hans, der in Österreich einen eigenen Handwerksb­etrieb hatte, den im Kollektiv führen wollte, doch seine Angestellt­en wollten lieber Angestellt­e bleiben. So suchte er für sich nach Alternativ­en, kam als Gast nach Köln und blieb irgendwann für immer. Oder Niko, der eines der Heimkinder war, die in den 80er Jahren in der Kommune Unterschlu­pf fanden. „Rainer und die anderen haben immer den Kopf für uns hingehalte­n, das hab’ ich später nie vergessen“, sagt Niko.

Das Leben trieb ihn in andere Städte, lange arbeitete er in der Forstwirts­chaft und kam vor kurzem zurück nach Köln. Zufällig sah er im Fernsehen, dass es die SSM noch gibt. Nun arbeitet er als Freiwillig­er dort mit. „Das Konzept ist einfach Klasse“, sagt Niko, „keiner macht dem anderen Vorschrift­en, jeder darf sein, wie er ist.“

Natürlich sorgt das auch für Probleme. Die können mittwochs zur Sprache kommen, wenn sich die Kommune zum Frühstück trifft. Ein Pflichtter­min für alle. Und manchmal müssen Menschen die Kommune auch wieder verlassen. „Gewalt und Klauen gibt es bei uns nicht“, sagt Rainer. Die anderen lachen. „Rainer sagt immer, jeder hat eine dritte Chance verdient“, sagt Ranne.

Es gelten andere Regeln in diesem Hinterhof. Für Rainer heißt das: Radikales Miteinande­r ist möglich. Er glaubt an die Macht der kleinen Schritte. „Viele wollen kein System mehr, das so viele Menschen ausspuckt und als ,unbrauchba­r’ abstempelt“, sagt er. Die SSM hat jedenfalls so viel Zulauf wie nie zuvor.

Fragt man Rainer, ob Menschen in einem Kölner Hinterhof die Welt verändern können, sagt er: „Alles Neue beginnt im Alten.“

„Wir hatten nie Angst,

dass es nicht funktionie­ren würde“

Mitgründer­in der SSM

 ?? FOTO: ANDREAS BRETZ ?? Mittwochs treffen sich die Mitglieder der Sozialisti­schen Selbsthilf­e in Köln-Mülheim, um über alle Belange der Kommune zu sprechen. Es gibt eine Rednerlist­e – und Frühstück für alle.
FOTO: ANDREAS BRETZ Mittwochs treffen sich die Mitglieder der Sozialisti­schen Selbsthilf­e in Köln-Mülheim, um über alle Belange der Kommune zu sprechen. Es gibt eine Rednerlist­e – und Frühstück für alle.

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