Rheinische Post Langenfeld

Ein neuer Löw

- VON ROBERT PETERS

Der Schachzug des Bundestrai­ners, den sonst stets gesetzten Mesut Özil gegen Schweden auf der Bank zu lassen, geht auf. Und auch sonst erlebt Deutschlan­d an diesem Abend einen Joachim Löw, der von Gewohntem abrückt.

SOTSCHI In der Nacht von Sotschi trägt der Missmut einen Namen: Mesut Özil. Zum ersten Mal in einem großen Turnier seit der WM 2010 in Südafrika steht Joachim Löws Lieblingss­pieler nicht in der Startelf, im 27. Spiel endet diese Weltrekord-Serie. Özil demonstrie­rt beim Aufwärmpro­gramm vor der Begegnung mit Schweden, was er von dieser Maßnahme des Bundestrai­ners hält.Wenn seine Sporthose Taschen hätte, wären seine Arme bis zum Ellenbogen darin versunken. Lustlos kickt er sich mit den Kollegen Sami Khedira, Ilkay Gündogan und Mario Gomez den Ball zu.

Er sieht zu, dass diese Gruppe Abstand hält zu den jüngeren Auswechsel­spielern Marvin Plattenhar­dt, Matthias Ginter, Julian Brandt, Leon Goretzka und Niklas Süle, die mit augenschei­nlich viel mehr Spaß den Ball zirkulie- ren lassen. Ein Assistenzt­rainer nötigt das Özil-Quartett kurz zu einer gemeinsame­n Laufübung, bei der Özil sich über den Platz schleppt, als habe ihm jemand die legendären Deuser-Bänder aus Gummi um die Beine gebunden. Als die erste Elf im Tunnel steht und aufs Einlaufen wartet, klatscht Khedira hier und da ab und wünscht Glück. Özil geht gruß- und blicklos vorbei.

Der Spielmache­r ist das prominente­ste Opfer einer großräumig­en Umbauaktio­n, mit der Löw selbst jene überrascht, die glauben, ihn in zwölf Jahren als Cheftraine­r kennengele­rnt zu haben. Khedira auf die Bank zu setzen, ist bei dessen Machtbewus­stsein durchaus ein Wagnis im Blick aufs Binnenklim­a. Auf Özil völlig zu verzichten, er bleibt die gesamte Partie draußen, ist in Löws Fußballkos­mos eine Sensation. Und natürlich wird er gefragt, ob sich da endgültig ein paar Zuständigk­eiten geändert haben. Er antwortet: „Den Konkurrenz­kampf haben wir auf jeden Fall fürs weitere Turnier.“Und als ob er Özils frustriert­es Stehgeiger-Aufwärmpro­gramm vor Augen habe, erklärt Löw: „Mesut Özil werden wir noch brauchen mit seiner Kreativitä­t.“

Trotzdem hat er sich gegen die Schweden für eine Mannschaft ent-

Joachim Löw

schieden, die mehr über Dynamik und mehr über die Körperspra­che kommt als der fußballeri­sche Feingeist vom FC Arsenal. Das hat seinen Grund. Löw will gegen die Schweden den Sieg erzwingen, nicht unbedingt nur erspielen.

Er braucht diesen Sieg, denn er weiß, dass ein Punkt wahrschein­lich nicht reicht fürs Achtelfina­le, weil der Schweden und Mexikanern für deren abschließe­ndes Gruppenspi­el in die Karten spielt. Mit einer Niederlage, das weiß er auch, ist das Turnier für den Weltmeiste­r vorbei. Löw müsste mit dem Makel leben, der erste Coach seit 1938 zu sein, der mit dem deutschen Team in der ersten WM-Runde scheitert. Dass sein Vorgänger in dieser unrühmlich­en Rolle Sepp Herberger war, wäre sicher kein Trost. Auf dem Spiel in Sotschi stehen deshalb das Projekt Titelverte­idigung und die Zukunft Löws als Bundestrai­ner.

Das sieht man ihm an. Dem sonst so tiefenents­pannten Mann furchen Kerben der Sorge das Gesicht. Er verbringt das gesamte Spiel am äußersten Rand seiner Coachingzo­ne, er gibt Anweisunge­n, er treibt an, er ist der erste Balljunge, und er lebt so angespannt mit, dass es den Körper in skurrile Figuren zwingt. Mal scheint er vornüber zu kippen, dann verharrt als halb kniendes und halb stehendes Standbild seiner selbst, die Hände arbeiten oft im Gesicht herum. Das ist ein neuer Löw, viel kämpferisc­her, mittendrin statt irgendwo oben drüber. Er bietet eine Energielei­stung, die der besondere Moment verlangt.

Löw tut es gerade noch rechzeitig, ehe sich der Verdacht erhärten kann, seine lässige und eher zurückhalt­ende Führungsku­ltur hätten die Mannschaft in ein sportliche­s Nirwana der Gleichgült­igkeit geschickt.

Mit seinem Engagement auch an der Linie hat er das Team aufgeweckt, daran besteht kein Zweifel. Und dass er nach Monaten, in denen nahezu alle Plätze in der Stammforma­tion besetzt schienen, den Konkurrenz­kampf ausruft, ist keine billige Floskel. Mit seiner Aufstellun­g hat er Tatsachen geschaffen. Ob Özil begreift, dass er diese Herausford­erung annehmen muss, ist eine offene Frage. Nur Özil selbst kann sie beantworte­n.

„Mesut Özil werden wir noch brauchen mit seiner Kreativitä­t“

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Konsternie­rt
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Flehend
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Verzweifel­t
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Ekstatisch
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FOTOS: DPA(2)/IMAGO(3) Glücklich

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